15.11.2024
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Bundesgerichtshof Urteil09.02.2017

BGH zur Rückforderung angeblicher Beihilfen für Ryanair am Flughafen LübeckVorläufiger Beurteilung in Eröff­nungs­be­schluss der Europäischen Kommission muss nicht absolut und unbedingt Folge geleistet werden

Nationale Gerichte müssen zwar die vorläufige Beurteilung in einem Eröff­nungs­be­schluss der Europäischen Kommission berücksichtigen, dass eine bestimmte Maßnahme eine Beihilfe darstellt. Eine absolute und unbedingte Verpflichtung, dieser vorläufigen Beurteilung zu folgen, besteht aber nicht. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs hervor.

Die Klägerin des zugrunde liegenden Rechtsstreits, die Flugge­sell­schaft Air Berlin, machte geltend, dass die beklagte Hansestadt Lübeck Ryanair günstige Bedingungen für die Nutzung des Flughafens Lübeck-Blankensee gewährt habe. Air Berlin hielt dies für unions­rechts­widrige Beihilfen. Zur Vorbereitung eines Anspruchs auf Rückforderung verlangt die Klägerin von der Beklagten Auskunft über die Ryanair gewährten Vergünstigungen.

Kommission sieht in gewährten Konditionen staatliche Beihilfen für Ryanair

Das Landgericht Kiel gab der Auskunftsklage statt. Nach Verkündung dieses Urteils eröffnete die Kommission im Juli 2007 ein förmliches Prüfverfahren zu möglichen staatlichen Beihilfen zugunsten der Flughafen Lübeck GmbH und Ryanair (ABl. EU 2007 Nr. C 295, S. 29 - nachfolgend "Eröff­nungs­be­schluss"). Danach stellen die Ryanair gewährten Konditionen nach vorläufiger Einschätzung der Kommission staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 108 Abs. 3 AEUV* dar.

OLG verneint rechtliche Grundlage für Auskunfts­ansprüche

Das Schleswig-Holsteinische Oberlan­des­gericht wies die Auskunftsklage ab, weil keine rechtliche Grundlage für Ansprüche der Klägerin bestehe. Der Bundes­ge­richtshof hat dieses erste Berufungsurteil mit der Begründung aufgehoben, dass ein Verstoß gegen das beihil­fe­rechtliche Durch­füh­rungs­verbot nach Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV einen Schaden­s­er­satz­an­spruch der Klägerin begründen könne. Er wies die Sache daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurück.

OLG erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH

Der daraufhin vom Oberlan­des­gericht um eine Vorab­ent­scheidung ersuchte Gerichtshof der Europäischen Union führte aus, dass nach einem Eröff­nungs­be­schluss der Kommission ein mit einem Antrag auf Unterlassung der Durchführung einer Maßnahme und auf Rückforderung bereits geleisteter Zahlungen befasstes nationales Gericht verpflichtet sei, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Konsequenzen aus einem möglichen Verstoß gegen das Durch­füh­rungs­verbot zu ziehen; zu diesem Zweck könne es beschließen, die Rückforderung bereits gezahlter Beträge anzuordnen.

OLG fühlt sich an vorläufige Einschätzung der Kommission gebunden

Das Oberlan­des­gericht wies daraufhin die Berufung der Beklagten zurück, da es sich an die vorläufige Einschätzung der Kommission, dass die Ryanair gewährten Konditionen für die Nutzung des Flughafens Lübeck-Blankensee unzulässige staatliche Beihilfen darstellten, gebunden sah.

BGH hebt Berufungsurteil erneut auf und weist Sache zurück an das Landgericht

Auf die Revision von Ryanair hob der Bundes­ge­richtshof auch das zweite Berufungsurteil auf. Die Revision hatte bereits aus prozessualen Gründen Erfolg, weil das Landgericht im Hinblick auf einen weiterhin in erster Instanz anhängigen Unter­las­sungs­antrag der Klägerin ein unzulässiges Teilurteil verkündet und das Oberlan­des­gericht diesen Mangel nicht behoben hatte. Der Bundes­ge­richtshof hatte die Sache deshalb an das Landgericht zurück­zu­ver­weisen.

Vereinbarung über Flugha­fen­ge­bühren und Marketing stellt laut Europäischer Kommission keine Beihilfe dar

Nach der Revisi­ons­ver­handlung hat die Europäische Kommission laut einer Presse­mit­teilung am 7. Februar 2017 entschieden, dass die im Jahr 2000 zwischen der Rechts­vor­gängerin der Beklagten und Ryanair abgeschlossene Vereinbarung über Flugha­fen­ge­bühren und Marketing keine Beihilfe ist. Die Bedeutung der Entscheidung der Europäischen Kommission, zu der bislang nur die Presseerklärung vorliegt, für den vorliegenden Rechtsstreit lässt sich derzeit nicht abschließend beurteilen. Sollte sich erweisen, dass keine der von der Klägerin beanstandeten Maßnahmen eine Beihilfe darstellt, läge kein Verstoß gegen das Unionsrecht vor.

Nationale Gerichte müssen vorläufiger Beurteilung nicht ohne Weiteres folgen

Für das neue Verfahren wies der Bundes­ge­richtshof darauf hin, dass die nationalen Gerichte zwar grundsätzlich nicht von der vorläufigen Beurteilung der Kommission im Eröff­nungs­be­schluss abweichen dürfen, eine bestimmte Maßnahme stelle eine Beihilfe dar. Eine absolute und unbedingte Verpflichtung des nationalen Gerichts, dieser vorläufigen Beurteilung ohne Weiteres zu folgen, besteht aber nicht. Hat das nationale Gericht Zweifel, kann es eine Anfrage an die Kommission richten oder den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorab­ent­scheidung ersuchen. Insbesondere können vor dem nationalen Gericht vorgetragene Umstände, die nicht erkennbar im Eröff­nungs­be­schluss berücksichtigt wurden, Anlass geben, die Kommission um eine Stellungnahme zu bitten, ob sie eine gegenüber dem Eröff­nungs­be­schluss abweichende beihil­fe­rechtliche Beurteilung erlauben. Hält die Kommission weiter an ihrer Auffassung fest, erscheinen dem Gericht die dafür angeführten Gründe jedoch nicht überzeugend, so hat es den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorab­ent­scheidung zu ersuchen.

Verhält­nis­mä­ßig­keitsgebot ist zwingend zu beachten

Hat das Gericht danach bis zu einer endgültigen Entscheidung durch die Kommission vorläufig von der Beihil­fe­qualität der beanstandeten Maßnahmen auszugehen, folgt daraus allein noch nicht, dass der Auskunfts- und Rückfor­de­rungs­an­spruch besteht. Vielmehr hat das Gericht darüber unter Beachtung des Gebots, dem Eröff­nungs­be­schluss der Kommission praktische Wirksamkeit zu verschaffen, aber auch unter Wahrung der Interessen der beteiligten Parteien und gegebenenfalls unter Berück­sich­tigung außer­ge­wöhn­licher Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Insbesondere ist das Verhält­nis­mä­ßig­keitsgebot zu beachten. Unver­hält­nismäßig kann die Rückforderung aufgrund einer vorläufigen Einschätzung der Kommission etwa sein, wenn die Beihilfe mit hoher Wahrschein­lichkeit für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären ist, und die Rückforderung die Existenz des davon betroffenen Unternehmens ernsthaft bedroht. Im Streitfall ist zu berücksichtigen, dass die Kommission das Haupt­prüf­ver­fahren im Juli 2007 eröffnet und jedenfalls bis zur mündlichen Revisi­ons­ver­handlung nicht abgeschlossen hat. Sie hat sich auf Frage des Oberlan­des­ge­richts noch im März 2012 nicht in der Lage gesehen, Angaben zur voraus­sicht­lichen weiteren Dauer des Haupt­prüf­ver­fahrens zu machen. Zwischen­zeitlich betreibt die Beklagte keinen Flughafen mehr und Ryanair hat den Flugverkehr zum Flughafen Lübeck eingestellt. Eine noch bestehende wettbe­wer­bs­ver­zerrende Wirkung durch in den Jahren 2000 bis 2004 an die Streithelferin für Flugver­bin­dungen zum Flughafen Lübeck gezahlte Beihilfen erscheint danach fraglich.

*Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV lautet:

Erläuterungen
(2) Stellt die Kommission fest, nachdem sie den Beteiligten eine Frist zur Äußerung gesetzt hat, dass eine von einem Staat oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe mit dem Binnenmarkt nach Artikel 107 unvereinbar ist oder dass sie missbräuchlich angewandt wird, so beschließt sie, dass der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat. [...]

(3) Die Kommission wird von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann. Ist sie der Auffassung, dass ein derartiges Vorhaben nach Artikel 107 mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist, so leitet sie unverzüglich das in Absatz 2 vorgesehene Verfahren ein. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss erlassen hat.

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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