18.10.2024
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Bundesgerichtshof Beschluss23.04.2007

Strafrecht: BGH ermöglicht Berichtigung fehlerhafter ProtokolleAufhebung von Urteilen wegen Protokollfehler daher deutlich erschwert

Der Große Senat für Strafsachen des Bundes­ge­richtshofs hatte aufgrund einer Vorlage des 1. Strafsenats über die Frage zu entscheiden, inwieweit das Revisi­ons­gericht eine nachträgliche Berichtigung des tatrich­ter­lichen Haupt­ver­hand­lungs­pro­tokolls auch zum Nachteil des Revisi­ons­führers zu berücksichtigen hat.

Der Vorlage lag ein Urteil des Landgerichts München I zugrunde, durch das der Angeklagte wegen gefährlicher Körper­ver­letzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt wurde. Nach den Urteils­fest­stel­lungen hatte er in einem Oktoberfestzelt einem anderen Mann mit einem schweren gläsernen Krug zweimal wuchtig auf den Hinterkopf und einmal in den Nackenbereich geschlagen. Der Angeklagte hat gegen das Urteil das Rechtsmittel der Revision eingelegt und beanstandet das Verfahren vor der Strafkammer des Landgerichts als fehlerhaft. Er behauptet, in der Haupt­ver­handlung habe der Sitzungs­ver­treter der Staats­an­walt­schaft nicht den Anklagesatz verlesen und damit gegen zwingendes Verfahrensrecht verstoßen; dies ergebe sich unwiderlegbar aus dem von dem Straf­kam­mer­vor­sit­zenden und der Urkundsbeamtin erstellten Haupt­ver­hand­lungs­pro­tokoll. Erst nachdem der Angeklagte mit der Revision diesen – vermeintlichen – Verfah­rens­fehler formal ordnungsgemäß gerügt hatte, haben der Vorsitzende und die Urkundsbeamtin das Haupt­ver­hand­lungs­pro­tokoll dahin berichtigt, dass der Anklagesatz verlesen worden sei. Die Urkundsbeamtin hat auf einen ihr bei der Fertigung der Proto­kollr­ein­schrift unterlaufenen Übertra­gungs­fehler aus den teilweise steno­gra­phischen Aufzeichnungen während der Haupt­ver­handlung verwiesen. Vor der Proto­koll­be­rich­tigung hat der Vorsitzende dienstliche Stellungnahmen der anderen Richter und des Sitzungs­ver­treters der Staats­an­walt­schaft eingeholt. So hat ein Richter dahingehend Stellung genommen, dass er sich deswegen so genau an die Verlesung des Anklagesatzes erinnern könne, weil die von der Staats­an­walt­schaft vorgenommene rechtliche Bewertung des Tatgeschehens als versuchter Totschlag Unmut­s­äu­ße­rungen im Publikum ausgelöst habe. Auch der Verteidiger hat der Proto­koll­be­rich­tigung nicht substantiiert widersprochen.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs war im straf­recht­lichen Revisi­ons­ver­fahren eine nachträgliche Proto­koll­be­rich­tigung dann unbeachtlich, wenn sie einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge die Tatsa­chen­grundlage entzieht (sog. Verbot der Rügever­küm­merung). Der 1. Strafsenat wäre auf der Grundlage dieser Rechtsprechung gehalten gewesen, das Urteil wegen eines tatsächlich nicht geschehenen Verfah­rens­fehlers aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuweisen. Der Große Senat für Strafsachen hat diese Rechtsprechung nunmehr jedoch aufgegeben. Er hat entschieden, dass durch eine Berichtigung des Protokolls auch zum Nachteil des Revisi­ons­führers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsa­chen­grundlage entzogen werden kann. Um einer etwaigen Gefahr "falscher Proto­koll­be­rich­ti­gungen" vorzubeugen, sind im Berich­ti­gungs­ver­fahren der Revisionsführer anzuhören und gegebenenfalls weitere Verfah­rens­be­teiligte zu befragen. Die Berich­ti­gungs­ent­scheidung ist, falls der Revisionsführer substantiiert widerspricht, mit Gründen zu versehen. Das Revisi­ons­gericht überprüft die Proto­koll­be­rich­tigung und versagt ihr, falls Zweifel verbleiben, die Anerkennung.

Der Große Senat für Strafsachen hebt hervor, dass auch die Revisi­ons­ge­richte der Wahrheit verpflichtet sind. Deswegen ist die straf­pro­zessuale Vorschrift über die Beweiskraft des Haupt­ver­hand­lungs­pro­tokolls (§ 274 StPO) so auszulegen, dass seine inhaltliche Richtigkeit gewährleistet ist. Demgegenüber sei in der Praxis zunehmend zu beobachten, dass Verteidiger unter Berufung auf ein inhaltlich unrichtiges Protokoll unwahres Vorbringen zum Gegenstand von Verfahrensrügen machen. Ein solches Verhalten habe früher nach verbreiteter Ansicht als standeswidrig gegolten; heute werde es hingegen schon als "anwaltlicher Kunstfehler" angesehen, einen Proto­kol­lie­rungs­fehler nicht zu nutzen. Darüber hinaus hält der Große Senat eine Änderung der Rechtsprechung mit Blick auf den Beschleu­ni­gungs­grundsatz und den Opferschutz für geboten. Denn ein bloßer Proto­kol­lie­rungs­fehler, der sich auf die Haupt­ver­handlung nicht ausgewirkt haben kann, könne eine – unter Umständen langwierige – Neuverhandlung gegebenenfalls mit einer für das Opfer belastenden nochmaligen Vernehmung nicht rechtfertigen. Den Schutz des Revisi­ons­führers vor "falschen Proto­koll­be­rich­ti­gungen" und die prozessuale Waffen­gleichheit, mithin das Grundecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), sieht der Große Senat insbesondere auch dadurch gewährleistet, dass Rechte des Revisi­ons­führers im Proto­koll­be­rich­ti­gungs­ver­fahren zu wahren sind und die Berichtigung der Überprüfung durch das Revisi­ons­gericht unterliegt.

Erläuterungen
Text des § 274 StPO (Beweiskraft des Protokolls)

1Die Beobachtung der für die Haupt­ver­handlung vorge­schriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. 2Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 75/07 des BGH vom 18.06.2007

der Leitsatz

StPO § 274

1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil des Beschwer­de­führers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsa­chen­grundlage entzogen werden.

2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten Proto­koll­be­rich­tigung zunächst den Beschwer­de­führer anzuhören. Widerspricht er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erfor­der­li­chenfalls weitere Verfah­rens­be­teiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Proto­koll­be­rich­tigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen.

3. Die Beachtlichkeit der Proto­koll­be­rich­tigung unterliegt im Rahmen der erho-benen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisi­ons­gericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.

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