18.10.2024
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Dokument-Nr. 9127

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Bundesarbeitsgericht Beschluss27.01.2010

BAG: Vierter Senat beabsichtigt Änderung der Rechtsprechung zur TarifeinheitVerdrängung eines geltenden Tarifvertrages ist mit Grundrecht der Koali­ti­o­ns­freiheit nicht vereinbar

Der Vierte Senat des Bundes­a­r­beits­ge­richts beabsichtigt, seine Rechtsprechung zum Grundsatz der Tarifeinheit zu ändern, und hat deshalb nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG eine Diver­gen­zanfrage an den Zehnten Senat des Bundes­a­r­beits­ge­richts gerichtet.

Nach Auffassung des Vierten Senats gelten für ein Arbeits­ver­hältnis, dessen Parteien nach § 3 Abs. 1 TVG an einen Tarifvertrag gebunden sind, die Rechtsnormen dieses Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeits­ver­hält­nissen ordnen, zwingend und unmittelbar nach § 4 Abs. 1 TVG. Sie können auch dann nicht nach dem Grundsatz der Tarifeinheit verdrängt werden, wenn der Arbeitgeber durch seine Mitgliedschaft in einem tarif­schlie­ßenden Arbeit­ge­ber­verband zugleich an einen mit einer anderen Gewerkschaft für Arbeits­ver­hältnisse derselben Art geschlossenen Tarifvertrag unmittelbar gebunden ist.

Sachverhalt

Der Kläger war im Krankenhaus der Beklagten als Arzt beschäftigt und verlangt für den Monat Oktober 2005 einen Urlaub­s­auf­schlag nach den Bestimmungen des Bundes­an­ge­stellten-Tarifvertrages (BAT). Er ist Mitglied des Marburger Bundes. Die Beklagte ist Mitglied im Kommunalen Arbeit­ge­ber­verband, der Mitglied in der Vereinigung der Kommunalen Arbeit­ge­ber­verbände (VKA) ist. Bis zum 30. September 2005 galt für die Parteien aufgrund ihrer jeweiligen Mitglied­s­chaften der Bundes­an­ge­stellten- Tarifvertrag (BAT) nach den Bestimmungen des Tarif­ver­trags­ge­setzes unmittelbar und zwingend. Der BAT war zuletzt auf Arbeit­ge­berseite von der VKA, auf Arbeit­neh­merseite sowohl von der Gewerkschaft ver.di als auch vom Marburger Bund, vertreten durch die Gewerkschaft ver.di, geschlossen worden. Der am 1. Oktober 2005 in Kraft getretene Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) wurde von der VKA und u.a. von der Gewerkschaft ver.di, nicht aber vom Marburger Bund geschlossen. Das beklagte Krankenhaus war daher ab dem 1. Oktober 2005 sowohl an den zwischen dem Marburger Bund und der VKA noch weiterhin geltenden BAT als auch an den TVöD unmittelbar tarifgebunden. Der vom Marburger Bund mit der VKA geschlossene Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern (TV-Ärzte) trat erst zum 1. August 2006 in Kraft. Die Beklagte verweigerte die Zahlung des Urlaub­s­auf­schlags nach dem BAT, weil der für die Mitglieder des Marburger Bundes auch noch nach dem 1. Oktober 2005 geltende BAT nach dem Grundsatz der so genannten Tarifeinheit ab diesem Zeitpunkt vom TVöD als speziellerem Tarifvertrag verdrängt worden sei.

Hintergrund zur bisherigen Rechtsprechung des Vierten Senats

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Vierten Senats kam der Grundsatz der Tarifeinheit auch dann zum Tragen, wenn ein Betrieb vom Geltungsbereich mehrerer Tarifverträge erfasst wurde, die von verschiedenen Gewerkschaften geschlossen worden waren und an die der Arbeitgeber deshalb gebunden war, weil er Mitglied im tarif­schlie­ßenden Arbeit­ge­ber­verband oder selbst Tarif­ver­trags­partei war, während demgegenüber für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Gewerk­schafts­mit­glied­schaft nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung fand (Tarifpluralität). Nach dem Grundsatz der Tarifeinheit sollte eine solche Tarifpluralität im Falle einer unmittelbaren Tarifbindung des Arbeitgebers an verschiedene Tarifverträge dahin aufgelöst werden, dass der speziellere Tarifvertrag den anderen Tarifvertrag im Betrieb verdrängt.

Kläger kann Urlaub­s­auf­schlag nach Bestimmungen des BAT verlangen

Der Vierte Senat des Bundes­a­r­beits­ge­richts beabsichtigt, seine Rechtsprechung zur so genannten Tarifeinheit für die vorliegende Fallgestaltung zu ändern. Die Rechtsnormen des BAT gelten im Arbeits­ver­hältnis der Parteien aufgrund der beiderseitigen Mitgliedschaft in den tarif­schlie­ßenden Koalitionen unmittelbar und zwingend nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. Deshalb kann der Kläger einen Urlaub­s­auf­schlag nach den Bestimmungen des BAT verlangen. Eine gesetzlich angeordnete Regelung für die Verdrängung dieser durch das Tarif­ver­trags­gesetz vorgesehenen Geltung besteht ebenso wenig wie eine zur Rechts­fort­bildung berechtigende Lücke im Tarif­ver­trags­gesetz angenommen werden kann. Die Verdrängung eines geltenden Tarifvertrages nach dem Grundsatz der Tarifeinheit in den Fällen einer durch Mitgliedschaft oder durch die Stellung als Tarif­ver­trags­partei begründeten Tarifpluralität ist zudem mit dem Grundrecht der Koali­ti­o­ns­freiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren. Schließlich lässt sich die zwangsweise Auflösung der verfas­sungs­rechtlich vorgesehenen Tarifpluralität auch nicht mit möglichen Auswirkungen auf andere Rechtsbereiche rechtfertigen. Die aus einer Tarifpluralität möglicherweise erwachsenden Folgen z.B. für Arbeitskämpfe sind im Bereich des Arbeits­kampfrechts zu lösen; entsprechendes gilt für das Betrie­bs­ver­fas­sungsrecht.

Vierter Senat möchte in Rechtsfrage von bisheriger Rechts­auf­fassung des Zehnten Senats abweichen – dieser sieht dazu keinen Anlass

Der Vierte Senat des Bundes­a­r­beits­ge­richts ist im vorliegenden Rechtsstreit an einer abschließenden Entscheidung gehindert, weil er in dieser entschei­dungs­er­heb­lichen Rechtsfrage von der bisherigen Rechts­auf­fassung des Zehnten Senats des Bundes­a­r­beits­ge­richts abweichen möchte. Er hat daher entsprechend den Vorschriften des Arbeits­ge­richts­ge­setzes beim Zehnten Senat angefragt, ob dieser an seiner Rechts­auf­fassung festhält. Nach Auffassung des Senats bestand für eine Grund­satz­vorlage an den Großen Senat des Bundes­a­r­beits­ge­richts nach § 45 Abs. 4 ArbGG dagegen kein hinreichender Anlass.

Quelle: ra-online, BAG

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