23.11.2024
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Dokument-Nr. 32053

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Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz Beschluss22.07.2022

Unzureichende Begründung der Nicht-Vorlage an den EuGH verletzt das Recht auf den gesetzlichen RichterVerfassungs­beschwerde im Streit um Lebens­ver­si­cherung erfolgreich

Der Verfassungs­gerichts­hof Rheinland-Pfalz in Koblenz hat einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, die die Verpflichtung nationaler Gerichte zur Durchführung eines Vorab­entscheidungs­verfahrens vor dem EuGH im Zusammenhang mit dem in den Lebens­versicherungs­richtlinien verbürgten Wider­spruchsrecht und der Frage dessen rechts­missbräuch­licher Ausübung betraf.

Der Beschwer­de­führer erklärte im Jahr 2016 den Widerspruch zu einem 2002 abgeschlossenen Lebens­ver­si­che­rungs­vertrag, der zum vereinbarten Vertragsende im März 2012 bereits vollständig abgewickelt worden war. Er begründete die Zulässigkeit seines Widerspruchs mit einer fehlerhaften Belehrung über dieses Recht und mit unzureichenden Verbrau­che­r­in­for­ma­tionen. Das Landgericht Trier wies die unter anderem auf Rückab­wick­lungs­ansprüche in Höhe von 17.319,51 € gerichtete Klage des Beschwer­de­führers ab, da der Versi­che­rungs­vertrag nicht aufgrund des Widerspruchs unwirksam geworden sei. Dabei ließ es offen, ob die Belehrung über das Wider­spruchsrecht ordnungsgemäß war. Der Ausübung des Rücktritts­rechts stehe der Einwand des Rechts­miss­brauchs wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben entgegen. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass der Bestand des Vertrages über eine sehr lange Zeit - auch noch nach endgültiger Vertrags­ab­wicklung - nicht in Frage gestellt worden sei. Das Oberlan­des­gericht Koblenz wies die hiergegen gerichtete Berufung im Beschlusswege als unbegründet zurück. Es treffe entgegen der Auffassung des Beschwer­de­führers nicht zu, dass ein rechts­miss­bräuch­liches Verhalten nur festgestellt werden könne, wenn die vom EuGH entwickelten Voraussetzungen eines Rechts­miss­brauchs - insbesondere ein subjektives Element - vorlägen. Der EuGH erkenne an, dass die nationalen Gerichte einen Rechts­miss­brauch nach nationalem Recht prüfen und feststellen dürften, wenn - wie vorliegend - keine europäischen Regelungen zum Rechts­miss­brauch getroffen seien. Demgegenüber sei die Entscheidungen des EuGH, auf die der Beschwer­de­führer sich berufe, zu Verbrau­cher­krediten und nicht zum Lebens­ver­si­che­rungsrecht ergangen und nicht darauf übertragbar. Auch der Sinn der Lebens­ver­si­che­rungs­richt­linien werde durch die Anwendung der nationalen Grundsätze rechts­miss­bräuch­lichen Verhaltens nicht gefährdet. Die hiergegen gerichtete Anhörungsrüge wies das Oberlan­des­gericht zurück.

Beschwer­de­führer rügte unterlassene EuGH-Vorlage

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wandte sich der Beschwer­de­führer gegen die Beschlüsse des Oberlan­des­ge­richts und machte eine Verletzung des Willkürverbots im Hinblick auf den gesetzlichen Richter und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz geltend. Insbesondere habe das Oberlan­des­gericht willkürlich gegen seine Pflicht zur Vorlage an den EuGH verstoßen. Es habe nämlich eine klare oder geklärte Rechtslage des Unionsrechts, die eine Vorlage entbehrlich machen würde, ohne nachvoll­ziehbare Begründung unterstellt. Es sei insoweit schon zweifelhaft, ob der Rechts­miss­brauch­s­einwand in Fällen unzureichender Belehrung über das Wider­spruchsrecht unionsrechtlich überhaupt angewendet werden dürfe. Eindeutig geklärt sei spätestens seit einer Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2021 jedenfalls, dass der Berufung auf ein unionsrechtlich begründetes Wider­spruchsrecht eine allein nach nationalen, ausschließlich objektiven, Kriterien beurteilte Rechts­miss­bräuch­lichkeit nicht entge­gen­ge­halten werden dürfe; vielmehr müsse stets auch ein subjektives Element vorliegen. Die Beklagte des Ausgangs­ver­fahrens hielt die Verfas­sungs­be­schwerde dagegen für unzulässig, da die Vorlagepflicht nicht, jedenfalls aber nicht willkürlich, verletzt worden sei. Die angegriffene Entscheidung sei vertretbar und überzeugend begründet und stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs sowie zahlreicher Obergerichte.

VerfGH: Recht auf gesetzlichen Richter verletzt

Die Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Der Beschluss des Oberlan­des­ge­richts, mit dem die Berufung zurückgewiesen wurde, verletze den Beschwer­de­führer in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 6 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz - LV -). Der EuGH sei gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 LV. Komme ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorab­ent­schei­dungs­ver­fahrens nach Art. 267 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - nicht nach, könne dem Rechts­schutz­su­chenden des Ausgangs­rechtss­treits der gesetzliche Richter entzogen sein. Dabei stelle nicht jede Verletzung der unions­recht­lichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter dar. Eine Verletzung von Verfas­sungsrecht liege nur vor, wenn die Auslegung und Anwendung der Zustän­dig­keitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht mehr verständlich erscheine und offensichtlich unhaltbar sei. Offensichtlich unhaltbar gehandhabt werde Art. 267 Abs. 3 AEUV im Falle der Unvoll­stän­digkeit der Rechtsprechung unter anderem dann, wenn das Fachgericht das - grundsätzlich von der Vorlagepflicht befreiende - Vorliegen einer von vornherein eindeutigen oder zweifelsfrei geklärten Rechtslage ohne sachliche bzw. sachlich einleuchtende Begründung annehme.

Nachvoll­ziehbare, vertretbare Begründung erforderlich

Die Pflicht der Fachgerichte zur Begründung folge aus der verfas­sungs­recht­lichen Gewährleistung des Rechts auf den gesetzlichen Richter. Dabei wirke die Integra­ti­o­ns­ver­ant­wortung des Grundgesetzes und der Landes­ver­fassung auf diese Begrün­dungs­pflicht ein. Die unionale Vorlagepflicht sowie die auch dem Unionsrecht entstammende Pflicht zur Begründung der Nichtvorlage würden nämlich verfas­sungs­rechtlich durch das Recht auf den gesetzlichen Richter abgesichert, wobei die Verfas­sungs­ge­richte ihre Integra­ti­o­ns­ver­ant­wortung durch die Kontrolle der Fachgerichte auf die Beachtung dieser Pflichten unter der Perspektive der Garantie des gesetzlichen Richters wahrnähmen. Das Fachgericht müsse deshalb Gründe angeben, die dem Verfas­sungs­gericht die gebotene Kontrolle am Maßstab der Verfassung überhaupt erst ermöglichten. Sei die verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle auf eine Vertret­ba­r­keits­prüfung beschränkt, müsse sich umgekehrt gerade die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht aus der Begründung des Fachgerichts ergeben. Das Fachgericht müsse eine nachvoll­ziehbare, vertretbare Begründung dafür geben, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den EuGH bereits entschieden oder die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.

OLG hätte EuGH zur Klärung der Frage anrufen müssen

Diese Anforderungen habe das Oberlan­des­gericht nicht gewahrt. Es sei nämlich nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet gewesen, ein Vorab­ent­schei­dungs­ver­fahren vor dem EuGH dazu durchzuführen, ob und unter welchen Voraussetzungen es mit Unionsrecht vereinbar ist, wenn die Ausübung eines durch die Lebens­ver­si­che­rungs­richt­linien garantierten Wider­spruchs­rechts wegen Rechts­miss­brauchs des Versi­che­rungs­nehmers ausgeschlossen wird, obwohl dieser nicht ordnungsgemäß über sein Recht belehrt wurde. Insoweit greife keine der vom EuGH anerkannten Ausnahmen von der Vorlagepflicht. Insbesondere sei die Beantwortung der entschei­dungs­er­heb­lichen Fragen - die sich der Richtlinie nicht eindeutig entnehmen lasse - in der Rechtsprechung des EuGH nicht erschöpfend geklärt. Im Hinblick auf die vergleichbaren Zwecke der jeweiligen Vertrags­lö­sungs­rechte der Verbrau­cher­kre­di­t­richtlinie und der Lebens­ver­si­che­rungs­richt­linien folge dies nicht zuletzt aus der jüngsten Rechtsprechung des EuGH zu den Grenzen des Rechts­miss­brauch­s­einwands bei der Ausübung des Widerrufsrechts im Verbrau­cher­kre­dit­ver­tragsrecht.

Keine hinreichend tragfähige Begründung für Nichtvorlage

Das Oberlan­des­gericht habe keine hinreichend tragfähige Begründung gegeben, warum es gleichwohl von einer Vorlage abgesehen habe. Es könne sich aufgrund der jüngsten Entscheidung des EuGH zur Verbrau­cher­kre­di­t­richtlinie zunächst nicht ohne Weiteres auf die bisherige Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs zur Handhabung des Rechts­miss­brauch­s­einwands im Lebens­ver­si­che­rungsrecht und des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, das diese unter dem Blickwinkel des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht beanstandet hatte, stützen. Auch im Übrigen lieferten die Ausführungen des Oberlan­des­ge­richts keine vertretbare und nachvoll­ziehbare Begründung für das Absehen von einer Vorlage. So habe sich das Oberlan­des­gericht insbesondere nicht hinreichend mit der aktuellen Rechtsprechung des EuGH und mit den Zielen des in den Lebens­ver­si­che­rungs­richt­linien gewährleisteten Rücktritts­rechts - bzw. deren möglicher Beein­träch­tigung durch die Anwendung des nationalen Rechts­miss­brauch­s­einwands - ausein­an­der­gesetzt. Da die Verfas­sungs­be­schwerde bereits wegen einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter erfolgreich war, könne schließlich dahinstehen, ob zugleich der vom Beschwer­de­führer ebenfalls gerügte allgemeine Justi­z­ge­währ­leis­tungs­an­spruch verletzt sei.

Quelle: Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, ra-online (pm/ab)

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