24.11.2024
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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil11.06.2008

Einbürgerung eines langjährigen "Milli Görüs"-Funktionärs nur nach Einzel­fa­ll­prüfung möglich

Ein aktives Mitglied und langjähriger Funktionär der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG) kann nur dann eingebürgert werden, wenn er sich von einbür­ge­rungs­schäd­lichen Strömungen innerhalb der Organisation distanziert. Das hat der Verwal­tungs­ge­richtshof Baden-Württemberg entschieden und damit eine dem Kläger günstige Entscheidung des Verwal­tungs­ge­richts aufgehoben.

Der 1963 geborene Kläger, ein türkischer Staats­an­ge­höriger, lebt seit 1979 in Deutschland. Er ist seit 1992 Mitglied der IGMG; in den Jahren 1995/96 und von 2000 bis 2004 war er Vorsitzender der örtlichen Vereinigung an seinem Wohnort. Seinen Antrag auf Einbürgerung lehnten die Behörden ab, weil die IGMG eine extremistische islamische Organisation sei, die die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährde. Seine dagegen gerichtete Klage wurde in der Berufungs­instanz nun abgewiesen.

Der Verwal­tungs­ge­richtshof hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Mitgliedschaft des Klägers in der IGMG rechtfertige die Annahme, dass er Bestrebungen unterstütze, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet seien. Das stehe dem Einbür­ge­rungs­be­gehren entgegen.

Bei der Bewertung der IGMG sei nicht nur von ihrer Selbst­dar­stellung und ihren Satzungen oder offiziellen Verlautbarungen, sondern auch von der tatsächlichen Politik der Organisation, den Äußerungen und Aktivitäten von Funktionären und Anhängern, dem Schulungs- und Propa­gan­da­ma­terial und sonstigen der IGMG zurechenbaren Publikationen auszugehen. Danach sei festzustellen, dass die IGMG nach ihren Wurzeln und den persönlichen und sonstigen Verflechtungen eng mit der türkischen Milli-Görüs-Bewegung verbunden sei; deren Ziele seien der IGMG folglich zuzurechnen. Unter dem charismatischen Führer Necmettin Erbakan, einem ehemaligen türkischen Minis­ter­prä­si­denten, gehe Milli Görüs von einem Konflikt zwischen der westlichen und der islamischen Welt aus, der mit dem Sieg des Islam enden solle. Die Bewegung strebe die absolute Vorherrschaft eines islamischen Rechts­ver­ständ­nisses und der Scharia an. Die darin begründete Ablehnung westlicher Werte, des westlichen Staatssystems, der Freiheitsrechte und insbesondere des grund­ge­setz­lichen Prinzips der Volks­sou­ve­ränität und der Geltung der verfas­sungsgemäß zustande gekommenen Gesetze sei mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar.

Allerdings seien neuere Entwicklungen innerhalb der IGMG durchaus festzustellen. Die IGMG selbst nehme für sich in öffentlichen Verlautbarungen in Anspruch, dass sie auch wegen des neuen, in Deutschland aufgewachsenen Führungs­per­sonals in ihrem Verhältnis zur deutschen Verfas­sungs­ordnung einen relevanten Wandel durchgemacht habe. Die Existenz refor­m­o­ri­en­tierter Kreise innerhalb der IGMG mit dem Ziel, sich von den ursprünglichen politischen Idealen der Milli-Görüs-Bewegung Erbakans abzusetzen und die Integration der türkischen Muslime in Deutschland auf der Grundlage der verfas­sungs­recht­lichen Ordnung des Grundgesetzes zu fördern, werde auch sonst anerkannt. Die IGMG erscheine in heutiger Sicht deswegen eher als eine „diffuse“, inhomogene oder im Umbruch befindliche Organisation, die sich sowohl nach innen als auch nach außen um einen dauerhaften Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bemühe. Nach den vorliegenden Erkennt­nis­quellen sei die IGMG inzwischen als eine Organisation anzusehen, die in relevanten Teilen auf dem Weg zu einer Abwendung von ihren „einbür­ge­rungs­schäd­lichen“ Wurzeln sei. Eine generelle dauerhafte „Umorientierung“ der IGMG als Gesam­t­or­ga­ni­sation könne jedoch noch nicht angenommen werden.

Wegen des ambivalenten Charakters der IGMG stehe aber auch nicht automatisch fest, dass bei jedem Mitglied oder Funktionsträger der IGMG ausreichende Anhaltspunkte für einbür­ge­rungs­feindliche Bestrebungen oder Unter­stüt­zungs­hand­lungen anzunehmen seien. Deshalb komme es vielmehr zusätzlich auf die Einstellung des jeweiligen Ausländers an. Es sei zu entscheiden, ob er die Organisation als Ganzes, d.h. einschließlich ihrer einbür­ge­rungs­hin­dernden Ziele, mittrage oder ob er sich für seine Person eindeutig und nachhaltig von diesen Zielen abgewandt habe, indem er sich innerhalb der wider­strei­tenden Strömungen der Gemeinschaft klar positioniere. Deswegen könne ein Mitglied oder ein Funktionär einer Vereinigung, der sich intern ausreichend deutlich von deren verfas­sungs­feind­lichen Strömungen distanziere, sie überwinden wolle und geradezu einen verfas­sungs­freund­lichen Kurs zu seinem Ziel mache, grundsätzlich eingebürgert werden.

Der Kläger habe sich aber von einbür­ge­rungs­schäd­lichen Tendenzen innerhalb der IGMG nicht ausreichend tragfähig distanziert. Er sei den traditionellen Milli-Görüs-Vorstellungen verhaftet und könne jedenfalls den Reform­be­stre­bungen innerhalb der IGMG nicht zugezählt werden.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des VGH Baden-Württemberg vom 22.07.2008

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