21.11.2024
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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil08.11.2006

Verfas­sungs­schutz­bericht 2001 muss teilweise geändert werdenIslamische Gemeinschaft darf ohne Beweise nicht als extremistisch bezeichnet werden

Das Landesamt für Verfas­sungs­schutz darf bestimmte Behauptungen über die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. nicht mehr verbreiten. Dies hat der Verwal­tungs­ge­richtshof Baden-Württemberg entschieden und die klagabweisende Entscheidung des Verwal­tungs­ge­richts Stuttgart teilweise geändert.

Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (Kläger), eine Vereinigung von Muslimen hauptsächlich aus der Türkei, wendet sich gegen verschiedene Aussagen des Landesamtes für Verfas­sungs­schutz im Verfas­sungs­schutz­bericht 2001. Der Kläger wird vom Landesamt für Verfas­sungs­schutz auch mit nachrich­ten­dienst­lichen Mitteln beobachtet. Im Verfas­sungs­schutz­bericht 2001 wird über ihn im Kapitel „Sicher­heits­ge­fährdende Bestrebungen von Ausländern“ unter der Rubrik „Islamismus“ berichtet. Dort werden u.a. Äußerungen von Rednern sowie Sprechchöre der Zuschauer bei zwei Veranstaltungen des Klägers in Ulm/Neu-Ulm wiedergegeben, aus denen sich eine politische Zielsetzung des Klägers und die Gewalt­be­reit­schaft seiner Anhänger ergeben. Nach Ansicht des Klägers handelt es sich dabei um unwahre Tatsa­chen­be­haup­tungen, die er nicht hinnehmen müsse. Im gerichtlichen Verfahren hat das beklagte Land die einschlägigen Akten des Bayerischen Landesamt für Verfas­sungs­schutz, auf die es seine Erkenntnisse maßgeblich stützt, nicht vorgelegt, weil der Inhalt dieser Akten Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Verfas­sungs­schutzes zulasse und deswegen geheim­hal­tungs­be­dürftig sei. Der 14. Senat des Verwal­tungs­ge­richtshofs hat die Verweigerung der Aktenvorlage für rechtmäßig erklärt.

Im Berufungs­ver­fahren hatte der Kläger -anders als in der Vorinstanz- mit seinem Unter­las­sungs­be­gehren Erfolg. Zur Begründung führte das Gericht im Wesentlichen aus: Mit der Erwähnung des Klägers im Verfas­sungs­schutz­bericht als einer extremistischen Organisation werde dessen sozialer Geltungs­an­spruch in Frage gestellt. Dies sei nur dann gerechtfertigt, wenn die Tatsa­chen­be­haup­tungen, auf die sich das Werturteil über die Verfas­sungs­feind­lichkeit des Klägers stützten, erweislich wahr seien. Der Senat habe nach der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung aber nicht die Überzeugung gewinnen können, dass die gerügten Äußerungen gefallen und die Sprechchöre skandiert worden seien. Da wegen des Quellenschutzes eine Verwertung der Akten und die Vernehmung der V-Leute des Verfas­sungs­schutzes, die bei den Veranstaltungen anwesend gewesen sein sollen, ausscheide, könne das beklagte Land den Beweis grundsätzlich auch durch mittelbare Zeugen führen. Die vom Senat gehörten Bediensteten des Bayerischen Landesamtes für Verfas­sungs­schutz hätten zwar nachvollziehbar und glaubhaft allgemein über die Arbeitsweise der Behörde berichtet. Diese Aussagen seien aber für eine Überzeu­gungs­bildung des Senats, die sich maßgeblich auf die Verlässlichkeit der Angaben der eingesetzten V-Leute beziehen müsse, nicht ausreichend gewesen. Der Senat habe sich jedoch auf der anderen Seite nach Anhörung der vom Kläger benannten Zeugen auch nicht davon überzeugen können, dass die streitigen Tatsa­chen­be­haup­tungen unwahr seien. Die Nichter­weis­lichkeit der behaupteten Tatsachen gehe nach allgemeinen Grundsätzen zu Lasten des beklagten Landes.

Nach der Entscheidung des 1. Senats des Verwal­tungs­ge­richtshofs Baden-Württemberg wird dem Landesamt für Verfas­sungs­schutz Baden-Württemberg untersagt, zu behaupten oder zu verbreiten:

1. Ein ehemaliger Minister habe auf einer Veranstaltung der IGMG ( Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V.) anlässlich des Opferfestes Anfang März 2001 in Ulm gesagt, man solle vorerst kein Geld mehr in die Türkei schicken. „Bei einem Verbot würde nämlich das Vermögen der FP (Fazilet-Partisi (Tugendpartei)) vom türkischen Staat beschlagnahmt. Die Gelder, die bisher aus Sicher­heits­gründen durch mehrere Personen überbracht worden seien, würden derzeit bei Privatpersonen sicher verwahrt.“

2. Ein IGMG-Funktionär habe bei einer Veranstaltung in Neu-Ulm am 04.06.2001 gesagt, wenn man 3 Millionen Erwachsene für die IGMG gewinnen könne, sei es kein Problem, eine Partei zu gründen und ins Parlament in Berlin einzuziehen. Man werde bereits „von vielen Linksparteien“ und deutschen Politikern unterstützt. Es werde noch fünf bis 10 Jahre dauern, aber dann würde man auch das erreichen, was man „wirklich wolle“. In Europa führe man die Ausein­an­der­setzung mit anderen Mitteln. Hier sei Wissen und Bildung Macht, aber man könne auch anders kämpfen, sollte man nichts erreichen. Daran denke man aber im Moment nicht. Die Bedenken, dass man mit Annahme der deutschen Staats­bür­ger­schaft die türkische verliere, zerstreute der Redner mit dem Hinweis, man könne sich jederzeit nach Annahme der deutschen Staats­bür­ger­schaft auch die türkische wieder ausstellen lassen, es müsse aber schnell gehandelt werden.

3. Bei einer IGMG-Veranstaltung habe die Menge Sprechchöre wie „Hoca, wenn du sagst, wir sollen kämpfen, dann kämpfen wir. Wenn du sagst, wir sollen töten, dann töten wir!“, gerufen.

Das Landesamt für Verfas­sungs­schutz Baden-Württemberg hat daher die entsprechenden Passagen im Landes­ver­fas­sungs­schutz­bericht 2001, der im Internet weiterhin abrufbar ist (www.verfas­sungs­schutz-bw.de), zu entfernen oder auf andere Weise unkenntlich zu machen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des VGH Baden-Württemberg vom 24.11.2006

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