21.11.2024
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Sozialgericht Chemnitz Urteil07.09.2010

Grad der Behinderung von 50 bei Kind mit Diabetes mellitus I gerechtfertigtTherapieaufwand für Festlegung der Höhe des Grads der Behinderung entscheidend

Bei einem unter Diabetes mellitus Typ I leidenden Kind ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 und damit eine Schwer­be­hin­derung nach § 2 Abs. 1 Neuntes Buch des Sozial­ge­setzbuchs (SGB IX) festzustellen, wenn eine instabile Stoff­wech­sellage gegeben und ein hoher Therapieaufwand erforderlich ist. Dies entschied das Sozialgericht Chemnitz. Nachdem die vom beklagten Landkreis Zwickau zunächst eingelegte Berufung zurückgenommen wurde, ist die Entscheidung des Sozialgerichts somit rechtskräftig.

Im zugrunde liegenden Fall hatte das Amt für Familie und Soziales Chemnitz beim 2006 geborenen Kläger 2008 einen Grad der Behinderung von 40 festgestellt und ihm das Merkzeichen "H" (Hilflosigkeit) zuerkannt. Man war der Auffassung, dass die körperlichen Einschränkungen und die Hilfe­be­dürf­tigkeit des Kindes damit zutreffend erfasst seien. Der Therapieaufwand sei bei einem Kind unbeachtlich. Der Betroffene müsse die Therapie selbst im Sinne eines aktiven Tuns durchführen. Dies sei einem Kind im Alter des Klägers nicht möglich. Vielmehr werde der Therapieaufwand von Dritten – hier der Eltern – betrieben.

Eltern halten Zuerkennung der GdB von 50 für gerechtfertigt

Wegen der stark schwankenden Blutzuckerwerte und des hohen Betreuungs- und Therapieaufwand hielten die Eltern des aus dem Landkreis Zwickau stammenden Kindes einen GdB von 50 für richtig. Nach erfolglosem Wider­spruchs­ver­fahren klagten sie im Juli 2009 vor dem Sozialgericht Chemnitz, das ihnen Recht gab.

Natürlicher Spiel- und Entde­ckungsdrang sowie Persön­lich­keits­ent­wicklung des Kindes durch notwendige engmaschige Überwachung eingeengt

Das Urteil stützt sich auf die im Verfahren hinzugezogenen ärztlichen Unterlagen und medizinischen Dokumentationen. Diese beschreiben eine schlechte Stoff­wech­sellage, die mit einer Insulinpumpe therapiert wird. Es treten schwere Unter­zu­cke­rungen (Hypoglykämien) auf, die schnelle Hilfe erfordern. Der zur Herstellung eines stabilen Blutzu­cke­r­wertes und zur Vermeidung von Hypoglykämien notwendige Therapieaufwand ist beträchtlich. Für die Höhe des GdB kommt es nach einer Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts aus dem Jahre 2009 auch auf den Therapieaufwand an. Damit wird dem Zweck des SGB IX Rechnung getragen, Nachteile des Behinderten bei der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auszugleichen. Ein hoher Therapieaufwand schränkt die Teilhabe zusätzlich ein. Von wem der Therapieaufwand betrieben wird, ist nicht entscheidend. Zu bewerten sind die Einschnitte in die Lebensführung. So wird das Kind immer wieder aus seinem Tagesablauf herausgerissen. Es darf nur in einem gewissen Umkreis zu seinen Betreu­ungs­personen spielen. Sein natürlicher Spiel- und Entde­ckungsdrang wie auch seine Persön­lich­keits­ent­wicklung und Verselbst­stän­digung werden durch die notwendige engmaschige Überwachung eingeengt.

Landkreis legt Berufung gegen Entscheidung des Sozialgerichts ein

Der Landkreis Zwickau legte im Oktober 2010 gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz Berufung zum Sächsischen Landes­so­zi­al­gericht ein. Er hielt auch an der Berufung fest, nachdem die Entscheidung des Sozialgerichts Chemnitz in die vom Kommunalen Sozialverband herausgegebenen Anwen­dungs­hinweise vom 25. November 2010 zur Beachtung für die Landkreise und kreisfreien Städte im Freistaat Sachsen Aufnahme gefunden hatte.

Sachver­stän­di­gen­gut­achten veranlasst Landkreis zur Rücknahme der Berufung

Im laufenden Berufungs­ver­fahren befürwortete die Versor­gung­s­ärztin des Beklagten im Juni 2011 die Feststellung eines GdB von 50 beim Kläger. Dieser Meinung schloss sich die Prozess­ver­tretung des Landkreises ebenfalls nicht an, so dass das Landes­so­zi­al­gericht ein Sachver­ständigen-Gutachten in Auftrag gab. Der Sachverständige, ein Kinderarzt des Dresdener Univer­si­täts­kli­nikums, kam in seinem Gutachten vom 2. April 2012 mit deutlichen Formulierungen zu dem Ergebnis, dass alle Voraussetzungen für die Zuerkennung eines GdB von 50 vorlägen. Erst daraufhin nahm der beklagte Landkreis die Berufung zurück. Jetzt sei vertretbar, eine außergewöhnlich schwer regulierbare Stoff­wech­sellage und damit einen GdB von 50 anzunehmen.

Ergänzende Hinweise:

§ 69 Abs. 1 SGB IX lautet:

Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundes­ver­sor­gungs­ge­setzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Beantragt eine erwerbstätige Person die Feststellung der Eigenschaft als schwer­be­hin­derter Mensch (§ 2 Abs. 2), gelten die in § 14 Abs. 2 Satz 2 und 4 sowie Abs. 5 Satz 2 und 5 genannten Fristen sowie § 60 Abs. 1 des Ersten Buches entsprechend. Das Gesetz über das Verwal­tungs­ver­fahren der Kriegs­op­fer­ver­sorgung ist entsprechend anzuwenden, soweit nicht das Zehnte Buch Anwendung findet. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundes­ver­sor­gungs­ge­setzes und der auf Grund des § 30 Absatz 16 des Bundes­ver­sor­gungs­ge­setzes erlassenen Rechts­ver­ordnung gelten entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt. Durch Landesrecht kann die Zuständigkeit abweichend von Satz 1 geregelt werden.

Der mit der zweiten Änderungs­ver­ordnung neu gefasste Teil A, Nummer 5 d, Doppelbuchstabe jj und Teil B, Nummer 15.1, der Versor­gungs­medizin-Verordnung lautet:

15.1 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilha­be­be­ein­träch­tigung, die die Feststellung eines Grads der Schädi­gungs­folgen/Grad der Schädi­gungs­folgen (GdS) rechtfertigt. Der GdS beträgt .

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilha­be­be­ein­träch­tigung. Der GdS beträgt 20.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Thera­pie­aufwands und der Güte der Stoff­wech­se­lein­stellung eine stärkere Teilha­be­be­ein­träch­tigung. Der GdS beträgt 30 – 40.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insuli­n­in­jek­tionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Thera­pie­aufwands eine ausgeprägte Teilha­be­be­ein­träch­tigung. Die Blutzu­cker­selbst­mes­sungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50.

Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoff­wech­sellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.

Quelle: Sozialgericht Chemnitz/ra-online

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