14.11.2024
14.11.2024  
Sie sehen ein altes Ehepaar auf einer Parkbank.

Dokument-Nr. 1761

Drucken
Beschluss27.09.2005Sozialgericht BerlinS 9 RA 2189/02 und S 9 RA 4299/03
ergänzende Informationen

Sozialgericht Berlin Beschluss27.09.2005

Deutsche Rentenpraxis verstößt möglicherweise gegen EU-Recht - Sozialgericht Berlin ruft EuGH anDeutsche Rentnerin verliert durch Umzug nach Belgien mehr als 200 EUR pro Monat

Das Berliner Sozialgericht hat in zwei Verfahren den Europäischen Gerichtshof eingeschaltet. Das höchste europäische Gericht soll überprüfen, ob es mit dem EG-Vertrag vereinbar ist, dass die Rente von zwei deutschen Rentnerinnen gekürzt wird, weil sie zu ihren Kindern nach Belgien bzw. Großbritannien gezogen sind.

Diese Rentenkürzung ist im deutschen Sozial­ge­setzbuch (Sechstes Buch) vorgeschrieben. Das Berliner Sozialgericht ist der Auffassung, dass dadurch das Recht der EU-Bürger auf Freizügigkeit verletzt wird. Der Europäische Gerichtshof hat den Verfahren folgende Aktenzeichen zugewiesen: C-396/05 und C-419/05.

Beiträge im „Reichsgebiet“ gezahlt

Die Klägerin im Fall 1 besitzt die deutsche Staats­bür­ger­schaft. Sie wurde 1923 in der damaligen Tsche­cho­slowakei (Sudetenland) geboren. Im Jahr 1938 wurde das Sudetenland durch das Deutsche Reich völker­rechts­widrig annektiert. Ab 1939 wurden dort die Regeln der deutschen Sozia­l­ver­si­cherung angewandt. Die Klägerin arbeitete von 1939 bis April 1945 im Sudetenland und bezahlte von ihrem Lohn Beiträge zur deutschen Renten­ver­si­cherung (damals: Reichs­ver­si­che­rungs­anstalt für Angestellte in Berlin). Nach ihrer Ausweisung aus der Tsche­cho­slowakei lebte die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland. Ab 1988 erhielt die Klägerin eine Altersrente, wobei auch die Beitragszeiten aus dem Sudetenland berücksichtigt wurden. Als die Klägerin jedoch im Jahr 2001 zu ihrer Tochter nach Belgien zog, kürzte der Renten­ver­si­che­rungs­träger die Rente um 223 EUR.

Renten-„Export“ von Vertriebenen und Spät-Aussiedlern sollte verhindert werden

Die Behörde berief sich auf eine entsprechende Vorschrift im deutschen Sozial­ge­setzbuch (§ 272 des Sechsten Buches). Danach kann die Rente bei einem Umzug ins Ausland regelmäßig nur noch aus Versi­che­rungs­zeiten, die für eine Beschäftigung im heutigen Bundesgebiet geleistet wurden, gezahlt werden. Aus Beiträgen, die seinerzeit in den Teilen des „Reichsgebiets“ gezahlt wurden, die heute nicht zum Bundesgebiet zählen (so genannte „Reichsgebiets-Beitragszeiten“), kann bei gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland keine Rente mehr gezahlt werden. Das gilt beispielsweise für das damalige Sudetenland (wie im vorliegenden Fall) oder auch für Pommern (wie in dem vom Sozialgericht entschiedenen Parallel-Fall). Diese Geset­zes­ver­schärfung trat 1990 in Kraft und war Teil eines Gesetzespakets, mit dem vor allem verhindert werden sollte, dass die Renten von Vertriebenen und Spät-Aussiedlern ins Ausland „exportiert“ werden. Die Bundesrepublik berief sich in diesem Zusammenhang auf eine Ausnah­me­re­gelung in der Renten-Verordnung der Europäischen Union, die diese Geset­zes­ver­schärfung zuließ.

Nach Auffassung des Berliner Sozialgerichts verstoßen das deutsche Gesetz und diese Ausnah­me­re­gelung gegen das höherrangige Recht der EU-Bürger auf Freizügigkeit, das in Artikel 42 des EG-Vertrags garantiert sei. Eine ähnliche Auffassung wie das Berliner Sozialgericht hatte im Jahr 2002 auch das Bundes­so­zi­al­gericht vertreten und ebenfalls den Europäischen Gerichtshof eingeschaltet. Das dortige Verfahren konnte jedoch nicht abgeschlossen werden, weil die dortige Klägerin verstarb, bevor sich der Europäische Gerichtshof mit dem Fall befasst hatte und Erben das Verfahren nicht weiterführten.

Quelle: Pressemitteilung des SG Berlin vom 17.01.2006

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss1761

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI