18.10.2024
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Sozialgericht Berlin Urteil26.10.2012

Besucher­be­treuerin jahrelang als Schein­selb­ständige beim Bundestag im EinsatzBundestag verstößt gegen eigene Gesetze

Auch, wenn der Arbeitgeber und Arbeitnehmer forma­l­ver­traglich eine freie Mitarbeit in unter­neh­me­rischer Selbständigkeit vereinbart haben, ist in erster Linie maßgeblich, wie dieser Rahmenvertrag tatsächlich umgesetzt wird. Sprechen die tatsächlichen Arbeits­be­din­gungen deutlich für eine Angestell­ten­tä­tigkeit, so besteht die Versi­che­rungs­pflicht. Dies entschied das Sozialgericht Berlin.

In dem zugrunde liegenden Fall war die Besucher­be­treuerin (am Gerichts­ver­fahren als Beigeladene beteiligt) Studentin an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitete von Januar 2008 bis Oktober 2009 für den Deutschen Bundestag. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Besucherströme zu leiten, Infor­ma­ti­o­ns­ma­terial zu verteilen, Fragen zu beantworten und den Besuchern behilflich zu sein. Grundlage der Tätigkeit war ein Rahmenvertrag, wonach sie sich als freie Mitarbeiterin zur selbständigen Betreuung von Besuchern des Deutschen Bundestags verpflichtete. In ihrem Auftreten und äußerem Erschei­nungsbild sollte sie dem Ansehen des Deutschen Bundestags in der Öffentlichkeit Rechnung tragen. Als Vergütung waren 10 Euro pro Stunde vereinbart. Die tatsächliche Beauftragung erfolgte über Einzelverträge zu Dienstzeiten, für die sie sich vorab zur Verfügung gestellt hatte. Ein von der Bundes­tags­ver­waltung herausgegebener "Leitfaden für die Tätigkeit als Honorarkraft im Bereich der Besucher­be­treuung" und ein Rundbrief ("Infodienst für Besucher­be­treuer") enthielten weitere Hinweise zur Tätigkeit.

Bewerbung der Besucher­be­treuerin um eine Anstellung wurde nicht berücksichtigt

Im August 2009 beantragte die Beigeladene die Überprüfung ihres Sozia­l­ver­si­che­rungs­status bei der Rentenversicherung, die 2010 das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung feststellte. Ab November 2009 ließ der Bundestag seinen Besucherdienst nur noch durch abhängig Beschäftige durchführen. Obwohl auch sie sich um eine Anstellung beworben hatte, wurde die Beigeladene nicht wieder berücksichtigt.

Besucher­be­treuerin war nicht selbständig tätig, sondern abhängig beschäftigt

Mit seinem Urteil wies das Sozialgericht Berlin nach mündlicher Verhandlung die Klage des Deutschen Bundestages ab und bestätigte die Auffassung der beklagten Deutschen Renten­ver­si­cherung Bund. Die Beigeladene sei als Besucher­führerin des Bundestages nicht selbständig tätig gewesen, sondern abhängig beschäftigt gewesen.

Tatsächliche Verhältnisse sprechen für anhängiges Beschäf­ti­gungs­ver­hältnis

Zwar spreche der Inhalt des Rahmenvertrages für eine selbständige Tätigkeit. Maßgeblich sei indes, wie dieser tatsächlich umgesetzt worden sei. Bei einer Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse würden die Umstände, die für ein abhängiges Beschäf­ti­gungs­ver­hältnis sprechen, deutlich überwiegen.

Tatsächlich vorgegebenes und überwachtes Handlungs­korsett spricht gegen selbständige Tätigkeit

Die Beigeladene sei nicht frei tätig geworden, sondern in sehr hohem Maße in die Arbeits­or­ga­ni­sation des Besucher­dienstes eingegliedert gewesen. Sie sei nur an vorgegebenen Orten tätig geworden und habe ausschließlich Arbeitsmaterial genutzt, das ihr zur Verfügung gestellt worden sei, z. B. rote Parkas und Polohemden mit dem Logo des Deutschen Bundestages, Umhängetaschen, Infomaterial. Der Leitfaden und der Rundbrief „Infodienst“ hätten ihr konkrete Vorgaben gemacht, Verhal­tens­befehle enthalten und bei abweichendem Verhalten mit Sanktionen gedroht. Die Bundes­tags­ver­waltung habe damit deutlich gemacht, dass sie eine eigenständige, freie Ausübung des Auftrages gerade nicht akzeptierte, sondern ihre Vorstellungen zu Art und Weise und Ort der Tätigkeiten durchsetzen wollte. Im Gegensatz zur forma­l­ver­traglich vereinbarten Freiheit der Dienstausübung habe tatsächlich ein planvoll vorgegebenes und überwachtes Handlungs­korsett bestanden. Entscheidend gegen eine selbständige Tätigkeit spreche zudem, dass die Beigeladene kein unter­neh­me­risches Risiko übernommen habe. Sie habe auch nicht eine besondere eigene schöpferische Leistung erbracht, sondern sei auf einen ordnenden Hilfsdienst beschränkt gewesen.

Gericht kann Zurwehrsetzung des Deutschen Bundestages nicht nachvollziehen

Für das Gericht sei in hohem Maße unverständlich, mit welchem – auch finanziellen Aufwand – sich der Deutsche Bundestag gegen die Entscheidung der Renten­ver­si­cherung zur Wehr setze, wo doch bereits ein im Mai 2009 erstellter vorläufiger Bericht der Innenrevision des Bundestages für den Prüfzeitraum 2006 festgestellt habe, dass bei den Besucher­be­treuern durchaus eine Weisungs­un­ter­wor­fenheit bestehe und typische Merkmale eines selbständig tätigen Unternehmers fehlten.

Quelle: Sozialgericht Berlin/ra-online

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