18.10.2024
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Sozialgericht Berlin Urteil07.11.2013

Selbständige Hartz IV-Aufstockerin hat kein Anspruch auf Ayurveda-Praktikum in FernostJobcenter muss Reisekosten bei Einkommens­ermittlung nicht gewinnmindernd berücksichtigen

Eine selbständige Ayurveda- und Yogalehrerin, die ergänzend Hartz IV bezieht, muss so wirtschaften, dass sie ihren Lebensunterhalt möglichst allein decken kann. Sie hat ihre Betrie­bs­ausgaben auf das Notwendige zu beschränken. Ein siebenwöchiges Praktikum in einem Ayurveda-Ressort in Sri Lanka fällt nicht darunter, selbst wenn es der Fortbildung dient. Das Jobcenter muss die Reisekosten bei der Einkommens­ermittlung nicht gewinnmindernd berücksichtigen. Dies entschied das Sozialgericht Berlin.

Bei weitem nicht alle Hartz IV-Empfänger sind arbeitslos. Viele beziehen nur deshalb "aufstockend" ALG II, weil ihr Einkommen den Bedarf nicht deckt. Dazu gehören auch Selbständige, die z. B. mit einem Kleinbetrieb oder in der Anfangsphase nicht genügend verdienen. Häufig kommt es zum Streit um die Frage, wie hoch die tatsächlichen Einnahmen waren und welche Ausgaben bei der Gewin­n­er­mittlung in Abzug zu bringen sind.

Jobcenter bewilligt Leistungen zunächst nur vorläufig

Im zugrunde liegenden Streitfall arbeitete die Klägerin aus Berlin-Neukölln selbständig als Yogalehrerin und "Ayurveda-Coach". Für den Zeitraum April bis September 2008 bewilligte ihr das beklagte Jobcenter Berlin-Neukölln Leistungen zunächst nur vorläufig, weil noch unklar war, wie viel sie mit ihrer Tätigkeit letztendlich verdienen würde.

Jobcenter erkennt Kosten für Flugreise nach Sri-Lanka nicht an

Im März 2009 legte die Klägerin eine Übersicht über ihre tatsächlichen Einkünfte und Ausgaben im Bewil­li­gungs­zeitraum vor. Der Beklagte berechnete den Anspruch daraufhin neu, wobei er die Ausga­ben­po­sition für eine Flugreise nach Sri-Lanka im Februar 2008 (854 Euro) nicht anerkannte. Insgesamt kam er auf einen monatlichen Betriebsgewinn von 276 Euro und forderte die Erstattung von 627 Euro zuviel gezahlter Hartz IV-Leistungen.

Klägerin sieht in Reisekosten notwendige Betrie­bs­ausgaben

Mit ihrer im Juni 2012 erhobenen Klage machte die Klägerin geltend, dass die Reisekosten eine notwendige Betriebsausgabe gewesen seien, die ihren Gewinn gemindert habe. Sie sei nach Sri Lanka gereist, um dort für sieben Wochen ein Praktikum in einem Ayurveda-Kur-Ressort zu absolvieren. Bei freier Kost und Logis habe sie in authentischer Umgebung die Heilmethoden einheimischer Ayurvedaärzte kennengelernt und hierfür auch eine Prakti­kums­be­schei­nigung erhalten.

Leistungs­be­rechtigte müssen sämtliche Möglichkeiten zur Verringerung der Hilfe­be­dürf­tigkeit ausschöpfen

Das Sozialgericht Berlin wies die Klage nach mündlicher Verhandlung ab. Für die Einkom­men­s­er­mittlung Selbständiger sei laut Gesetz der Betriebsgewinn zu ermitteln, also die Differenz von tatsächlichen Betrie­b­s­ein­nahmen und Ausgaben. Dabei sei zu berücksichtigen, dass Leistungs­be­rechtigte sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen müssen, um ihre Hilfe­be­dürf­tigkeit zu verringern. Anzuerkennen seien daher nur notwendige, unvermeidbare Ausgaben, die den Lebensumständen eines Leistungs­emp­fängers nicht offensichtlich widersprächen. Steuer­rechtliche Vorschriften seien unbeachtlich.

Positiver Effekte der Fortbildung kann Nachteile der sich daraus ergebenden Umsatzeinbußen nicht aufwiegen

Gemessen hieran stünden Nutzen und Kosten der Reise in keinem angemessenen Verhältnis. Die Reise sei zwar betrieblich veranlasst, jedoch nicht notwendig gewesen. Die Reisekosten von 854 Euro hätten allein bereits 20 % des Betrie­b­s­um­satzes ausgemacht. Ohne die Kosten wäre der Gewinn doppelt so hoch gewesen. Zudem habe die Klägerin während des Praktikums sieben Wochen lang keinen Umsatz erwirtschaften können. Die positiven Effekte der Fortbildung könnten diese Nachteile nicht aufwiegen. Eine messbare Erhöhung der Umsätze, zum Beispiel durch einen höheren Bekannt­heitsgrad der Klägerin am Markt, sei nicht zu erwarten. Die Prakti­kums­be­schei­nigung könne auch nicht - anders als ein anerkanntes Zertifikat – werbewirksam eingesetzt werden.

Erläuterungen
Die Regelungen zur Einkom­men­s­an­re­gelung finden sich in den §§ 11 ff. Zweites Buch Sozial­ge­setzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II).

Sie werden ergänzt durch die Arbeits­lo­sengeld II- Verordnung (ALG II-V).

§ 3 Abs. 1 ALG II-V:

"Bei der Berechnung des Einkommens aus selbständiger Arbeit, Gewerbebetrieb oder Land- und Forstwirtschaft ist von den Betrie­b­s­ein­nahmen auszugehen [...]"

§ 3 Abs. 2 ALG II-V:

"Zur Berechnung des Einkommens sind von den Betrie­b­s­ein­nahmen die im Bewil­li­gungs­zeitraum tatsächlich geleisteten notwendigen Ausgaben [...] abzusetzen."

§ 3 Abs. 3 ALG II-V:

"Tatsächliche Ausgaben sollen nicht abgesetzt werden, soweit diese ganz oder teilweise vermeidbar sind oder offensichtlich nicht den Lebensumständen während des Bezugs der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende entsprechen."

Quelle: Sozialgericht Berlin/ra-online

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