Dokument-Nr. 3090
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Thüringer Oberverwaltungsgericht Urteil18.07.2006
Benutzungsgebühren für kommunale Kindertageseinrichtungen müssen die geringere Leistungsfähigkeit von kinderreichen oder finanzschwachen Familien berücksichtigenBenutzungsgebühren für Erfurter Kindertageseinrichtungen unwirksam
Der Normenkontrollantrag dreier Elternpaare aus Erfurt gegen die Regelungen der im Wesentlichen gleichlautenden Gebührensatzungen aus den Jahren 2001 und 2005 über die Höhe der Benutzungsgebühren für die Inanspruchnahme kommunaler Kindertageseinrichtungen in der Landeshauptstadt Erfurt hatte vor dem Thüringer Oberlandesgericht Erfolg. Die Satzungsbestimmungen zur Beitragshöhe (jeweils § 8 nebst Anlagen) sind für unwirksam erklärt worden.
Der Senat hat erhebliche Rechtsverstöße festgestellt. Nach bundes- und landesrechtlichen Vorgaben müssen die sog. Elternbeiträge für die Inanspruchnahme von Kindertageseinrichtungen auf Grund einer sozialen Staffelung erhoben werden, die an das Einkommen (wirtschaftliche Leistungsfähigkeit) und die Kinderzahl anknüpft. Dem entsprechen die Regelungen der Stadt Erfurt nicht. Die Staffelung muss gewährleisten, dass tendenziell eine geringere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und eine höhere Kinderzahl zu einer Begünstigung hinsichtlich der Beitragshöhe führen bzw. dass - umgekehrt - jedenfalls eine Schlechterstellung bei geringerer Leistungsfähigkeit oder höherer Kinderzahl nicht stattfindet.
Der Senat hat dargelegt, dass die in den tabellarischen Anlagen zu § 8 der Satzungen zum Ausdruck kommende Festlegung des maßgeblichen Einkommens der Sache nach nichts anderes bedeutet, als dass die Zahl der Kinder und die mit Versorgung und Unterhalt eines Kindes verbundene Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in die Beitragsbemessung ausschließlich insoweit einfließen, als für das zweite und dritte Kind ein Freibetrag vom Einkommen in Höhe von 150 € in Abzug gebracht wird. Dieser Betrag liegt deutlich unter dem Mindestaufwand für Versorgung und Unterhalt eines Kindes (Existenzminimum). Zugleich wird nach den Satzungen das Kindergeld (154 € für das erste bis dritte, 179 € für jedes weitere Kind) dem Einkommen hinzugerechnet.
Die angegriffenen Kita-Gebühren verfehlen daher die Vorgaben einer sozialen Staffelung schon deswegen, weil sie zum einen dem 4. und jedem weiteren Kind keinerlei begünstigende Beachtung schenken und weil zum anderen durch die Hinzurechnung des Kindergelds von jeweils 179 € zum sonstigen Einkommen eine höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Familien mit 4 und mehr Kindern im Vergleich zu Familien mit weniger Kindern unterstellt wird, ohne dass die finanzielle Belastung durch den Unterhaltsaufwand für das 4. und jedes weitere Kind auch nur im Ansatz berücksichtigt wird. Ungeachtet dessen wird die gesetzliche Vorgabe einer sozialen Staffelung auch bei geringerer Kinderzahl regelmäßig geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Dies hat der Senat an einigen Beispielen verdeutlicht und aufgezeigt, dass nach den Satzungsbestimmungen der Stadt Erfurt bei der Ermittlung der Beitragshöhe für Familien mit mehreren Kindern generell ein höheres Einkommen zu Grunde gelegt wird, auch wenn diese Familien über ein im Übrigen gleich hohes (Erwerbs-)Einkommen wie Familien mit weniger Kindern verfügen. So fallen etwa Familien mit 1 oder 2 Kindern bei einem Erwerbseinkommen von jeweils 1.390 € etwa in die Beitragsstufe IV, während Familien mit 3 oder 4 Kindern bei gleichem Erwerbseinkommen der nächsthöheren Beitragsstufe V zugeordnet werden, d. h. höhere Kita-Gebühren zahlen müssen.
Erläuterung zur Berechnung: Dem Erwerbseinkommen wird das jeweilige Kindergeld hinzugerechnet, für das 2. und 3. Kind wird jeweils ein Freibetrag von 150 € abgezogen. Das für die Beitragshöhe maßgebliche Einkommen beträgt demnach bei 1 Kind 1.544 € (1.390 € Erwerbseinkommen + 154 € Kindergeld), bei zwei Kindern 1.548 € (1.390 € + 2x 154 € - 1x 150 Freibetrag), bei 3 Kindern 1.552 € (1.390 € + 3x 154 € - 2x 150 €) und bei 4 Kindern 1.731 € (1.390 € + [3x 154 € + 1x 179 €] - 2x 150). Die Beitragsstufe IV gilt für ein Einkommen bis zu 1.550 €, höhere Einkommen bis zu 1.800 € werden der nächsthöheren Beitragsstufe V zugeordnet.
Der Senat hält darüber hinaus die Heranziehung des sozialhilferechtlichen Einkommensbegriffs (vgl. § 76 Bundessozialhilfegesetz - BSHG a. F., § 82 Sozialgesetzbuch XII - SGB XII) für rechtlich bedenklich. Bereits aus Praktikabilitätsgründen dürften die Anforderungen des auf Typisierung und Pauschalierung angelegten § 90 Abs. 1 SGB VIII verfehlt werden. Der Senat äußert sich weiter zur Bemessung von Elternbeiträgen, insbesondere zu einem sachgerechten Einkommensbegriff. Der Senat hat zudem erhebliche Zweifel daran geäußert, ob § 20 Abs. 2 des neuen, am 1. Januar 2006 in Kraft getretenen Thüringer Kindertageseinrichtungsgesetzes (ThürKitaG) mit § 90 Abs. 1 SGB VIII in Einklang steht; im Gegensatz zu dieser den Landesgesetzgeber ermächtigenden Vorschrift lässt es das neue Gesetz genügen, dass eine Beitragsstaffel nur an eines der beiden Merkmale "Einkommen" bzw. "Anzahl der Kinder" anknüpft (und nicht kumulativ an beide Merkmale).
Die Entscheidung im Normenkontrollverfahren ist allgemein verbindlich, sie gilt also nicht nur im Verhältnis zu denjenigen Gebührenschuldnern, die den Antrag gestellt haben.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 29.09.2006
Quelle: ra-online, Pressemitteilung des OVG Thüringen vom 22.09.2006
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