21.11.2024
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Dokument-Nr. 5639

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Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss14.02.2008

Ist das Europäische Haftbe­fehls­ge­setzes mit EU-Recht vereinbar?Vorla­ge­be­schluss des Oberlan­des­ge­richts Stuttgart an den Europäischen Gerichtshof

Das Oberlan­des­gericht Stuttgart hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die unter­schied­lichen Zuläs­sig­keits­vor­aus­set­zungen des deutschen Rechts für die Auslieferung an einen anderen Unionsstaat einerseits bei EU-Ausländern und andererseits bei deutschen Staats­an­ge­hörigen mit europäischem Recht vereinbar sind.

Die Vorlage betrifft einen 26-jährigen polnischen Staats­an­ge­hörigen, der sich seit Anfang 2005 ständig in Deutschland aufhält. Er soll im April 2002 in Polen mehrere Fensterscheiben einer Schule eingeworfen und einen Schaden von ca. 200 Euro verursacht haben, worauf ihn ein polnisches Gericht im Mai 2002 zu fünf Monaten Freiheitsstrafe verurteilte. Im April 2007 verlangten die polnischen Behörden von der Bundesrepublik seine Auslieferung zur Straf­voll­streckung. Der Betroffene hat der Auslieferung nicht zugestimmt. Die General­staats­an­walt­schaft Stuttgart hat beantragt, die Auslieferung dennoch für zulässig zu erklären. Das Oberlan­des­gericht hat das Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ausgesetzt.

Nach § 83 b des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) kann ein Ausländer mit ständigem Aufenthalt in Deutschland seine Zustimmung zur Auslieferung an einen anderen Unionsstaat zur Straf­voll­streckung zwar verweigern. Auch in diesem Fall muss das Oberlan­des­gericht aber die Auslieferung für zulässig erklären, wenn die sogenannte Bewil­li­gungs­behörde, in der Praxis die General­staats­an­walt­schaft, sie nach einer gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Abwägung staatlicher und privater Belange für geboten hält. Dabei wird nicht unterschieden, ob es sich um einen EU-Bürger oder um den Angehörigen eines Drittstaats handelt.

Stimmt dagegen ein Deutscher seiner Auslieferung zur Straf­voll­streckung nicht zu, ist sie nach § 80 IRG ohne Weiteres unzulässig.

Im Kern geht es dabei um das Interesse eines im Ausland Verurteilten, ihm, auch zu seiner Resozi­a­li­sierung, die Verbüßung der Strafe im eigenen sozialen Umfeld zu ermöglichen. Bei Ablehnung der Auslieferung muss nämlich in beiden Fällen die Bundesrepublik auf Ersuchen die Vollstreckung des ausländischen Urteils in einer deutschen Vollzugsanstalt übernehmen.

Der Senat stand vor der Frage, ob die sich aus der gesetzlichen Regelung ergebende Schlech­ter­stellung von EU-Bürgern mit ständigem Aufenthalt in Deutschland gegenüber deutschen Staats­an­ge­hörigen mit den in Artikeln 6 des EU-Vertrags und in Artikeln 12, 17 ff. des EG-Vertrags niedergelegten Grundsätzen der Nicht­dis­kri­mi­nierung und der Unions­bür­ger­schaft vereinbar ist. So hatte der Europäischen Gerichtshof bereits in der Entscheidung vom 29.04.2004 (C-482/01 [Orfanopoulos]) die damalige Regelung im deutschen Ausländerrecht beanstandet, wonach eine Verurteilung von Ausländern in der Bundesrepublik zu Freiheitsstrafe von drei Jahren oder mehr, bei Betäu­bungs­mit­tel­straftaten von zwei Jahren oder mehr, zur Ausweisung und Abschiebung führte, und zwar ohne Unterscheidung zwischen Unionsbürgern und Dritt­staats­an­ge­hörigen.

Da gegen Entscheidungen des Oberlan­des­ge­richts über die Zulässigkeit der Auslieferung innerstaatlich kein Rechtsmittel eröffnet ist, muss es bei Zweifeln über die Vereinbarkeit deutscher Bestimmungen mit EU-Recht zwingend die Vorab­ent­scheidung des Europäischen Gerichtshofs herbeiführen.

§§ 80, 83 b wurden durch das (zweite) Europäische Haftbe­fehls­gesetz vom 20.07.2006 in das IRG eingefügt, nachdem das Bundes­ver­fas­sungs­gericht mit Urteil vom 18.07.2005 das (erste) Europäische Haftbe­fehls­gesetz vom 21.07.2004 für nichtig erklärt hatte. Das Gesetz dient der inner­staat­lichen Umsetzung eines EU-Rahmen­be­schlusses vom 13.06.2002 zur justiziellen Zusammenarbeit. Eingeführt hat es unter anderem die Möglichkeit der Auslieferung deutscher Staats­an­ge­höriger an einen anderen EU-Staat.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des OLG Stuttgart vom 19.02.2008

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