Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im August 2011 kam es zwischen einer auf der falschen Seite fahrenden Radfahrerin und einem rückwärts in ein Grundstück einfahrenden Lkw zu einer Kollision. Aufgrund des Zusammenstoßes erlitt die Radfahrerin einen Schädelbasisbruch und klagte anschließend auf Feststellung, dass der Lkw-Fahrer für die Unfallfolgen hafte. Dieser wies die alleinige Verantwortung zurück. Seiner Meinung nach habe die Radfahrerin schuldhaft den Unfall mitverursacht, da sie verbotswidrig auf dem Gehweg fuhr und dies in falscher Richtung.
Das Landgericht Saarbrücken entschied, dass der Lkw-Fahrer für die Unfallfolgen nur zu 40 % hafte. Da die Radfahrerin verbotswidrig auf dem Gehweg gefahren sei, sei ihr ein Mitverschulden von 60 % anzulasten gewesen. Gegen diese Entscheidung legte sie Berufung ein.
Das Oberlandesgericht Saarbrücken entschied zu Gunsten der Radfahrerin und hob daher die erstinstanzliche Entscheidung auf. Ein Mitverschulden der Radfahrerin an der Kollision sei nicht festzustellen gewesen.
Nach Ansicht des Oberlandesgerichts sei dem Lkw-Fahrer zunächst ein Verstoß gegen § 9 StVO vorzuwerfen gewesen. Das Rückwärtseinfahren in ein Grundstück sei als Abbiegen im Sinne von § 9 StVO zu verstehen. Nach § 9 Abs. 3 StVO müsse ein Abbieger Gegenverkehr aller Art ohne wesentliche Behinderung vor dem Abbiegen durchfahren lassen. Dies gelte auch für pflichtwidrig entgegen der Fahrtrichtung kommende Radfahrer. Ferner habe sich ein Fahrzeugführer nach § 9 Abs. 5 StVO beim Abbiegen in ein Grundstück so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Er müsse bremsbereit und so langsam fahren, dass er notfalls sofort anhalten könne. Kommt es beim Rückwärtsfahren zu einem Unfall, spreche der Beweis des ersten Anscheins für eine Pflichtverletzung des Rückwärtsfahrers. So habe der Fall hier gelegen. Es sei zu vermuten gewesen, dass der Lkw-Fahrer unvorsichtig in das Grundstück hineingefahren sei. Diesen Anscheinsbewies habe er nicht widerlegen können.
Der Radfahrerin sei nach Auffassung des Oberlandesgerichts kein Mitverschulden anzulasten gewesen, weil sie verbotswidrig als Erwachsende auf dem Gehweg gefahren sei. Vielmehr sei sie auf einem nicht benutzungspflichtigen aber dennoch vorhandenen Radweg gefahren.
Die Radfahrerin habe zwar entgegen § 2 Abs. 4 Satz 4 StVO verbotswidrig den Radweg benutzt, so das Oberlandesgericht. Dies sei dem Lkw-Fahrer aber nicht zugutegekommen. Denn die Vorschrift diene allein dem Schutz des Gegen- und Überholverkehrs und nicht dem Einbiege- und Querverkehr.
Ein Mitverschulden habe sich nach Ansicht des Oberlandesgerichts auch nicht daraus ableiten können, dass die Radfahrerin die Gefahrensituation habe voraussehen und entsprechend reagieren können. Denn die Radfahrerin habe die Rückwärtsfahrt des Lkws nicht rechtzeitig bemerken und somit die Kollision nicht vermeiden können.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 03.08.2015
Quelle: Oberlandesgericht Saarbrücken, ra-online (vt/rb)