21.11.2024
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Oberlandesgericht Karlsruhe Urteil14.11.2007

Kinderarzt haftet wegen unterlassener Überweisung zum Augenarzt wegen Schielens90.000 € Schmerzensgeld sowie monatliche Rente für Geschädigten

Das Oberlan­des­gericht Karlsruhe hat einen Kinderarzt zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 90.000,- EUR verurteilt. Der Arzt hatte es anlässlich einer Untersuchung das Kind zu einem Augenarzt zu überweisen, obwohl die Eltern ihn auf das Schielen ihres Kindes aufmerksam gemacht hatten. So blieb ein Retinoblastom unerkannt, in dessen Folge das Kind erblindete.

In seinem ersten Lebensjahr erkrankte der Kläger an einem beidseitigen Retinoblastom (maligner Netzhauttumor), weshalb ihm im folgenden Jahr beide Augen operativ entfernt werden mussten. Er verlangt von dem ihn seit seinem 2. Lebensmonat als Kinderarzt betreuenden Beklagten, einem Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, wegen eines Behand­lungs­fehlers Schmerzensgeld, seine Eltern machen materielle Mehrauf­wen­dungen - vorwiegend Fahrtkosten - geltend, alle Kläger begehren die Feststellung, dass der Beklagte ihnen künftige materielle und immaterielle Schäden zu ersetzten hat.

Der Kläger befand sich seit seinem 2. Lebensmonat in ständiger ärztlicher Betreuung des Beklagten, der im 4. Lebensmonat die U 4 und im 7. Lebensmonat die U 5-Untersuchung vorgenommen hat. Die Eltern des Klägers stellten nach ihrem Vortrag im 4. oder 5. Lebensmonat ein Schielen ihres Kindes fest. Bei der U 5 wurde über das Schielen gesprochen, der Beklagte riet jedoch zu einem abwartenden Beobachten und veranlasste auch in der Folgezeit, obwohl ihm das Kind vier Mal u.a. wegen Erkältungen vorgestellt worden war, keine weitergehende Abklärung. Auf eigene Veranlassung suchten die Eltern im 9. Lebensmonat einen Augenarzt auf, der nach einer Untersuchung die Verdachts­diagnose Retinoblastom stellte und den Kläger sofort in eine Augenklinik überwies. In einer Fachklinik wurde festgestellt, dass das rechte Auge infolge der Erkrankung vollständig und das linke Auge zu 90 % erblindet war. Es mussten wegen der Gefahr von Metas­ta­sen­bildung aufgrund des weit fortge­schrittenen Tumors zunächst das rechte Auge und wenige Tage später auch das linke Auge entfernt werden.

Das Landgericht hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger ein Schmerzensgeld von 260.000 Euro und eine monatliche Schmer­zens­geldrente von 260 Euro zu bezahlen sowie den Eltern materiellen Schaden in Höhe von ca. 3.000 Euro zu ersetzen, und hat festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern weitere Schäden zu ersetzen.

Die Berufung des Beklagten zum Oberlan­des­gericht Karlsruhe - Senat für Arzthaf­tungs­sachen - hatte lediglich in Bezug auf die Höhe des Schmer­zens­geldes Erfolg.

Wie das Landgericht hat auch der Senat festgestellt, dass der Kläger gegen den Beklagten einen Schmer­zens­geldan­spruch hat, weil der Beklagte ihn anlässlich der Vorsor­ge­un­ter­suchung U 5 nicht zu einem Augenarzt überwiesen hat, was zur Diagnose der Retinoblastome geführt und eine vollständige Erblindung möglicherweise verhindert hätte. Nach den Ausführungen der kinder­ärzt­lichen Sachver­ständigen ist der Senat der Überzeugung, dass das einen Behand­lungs­fehler darstellt. Die Feststellung des Schielens in diesem Alter wäre unmittelbarer und dringender Anlass gewesen, den Kläger allerspätestens im Verlauf einer Woche in augenärztliche Untersuchung zu bringen. Der Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass es sich hier nur um einen Diagnosefehler handele, weil er von einem primären Schielen ausgegangen sei. Es gehört zum Grundwissen jedes Kinderarztes, dass Schielen ab einem Alter von 3-4 Monaten stets behand­lungs­be­dürftig ist, weil es ein Symptom für verschiedene ernst zu nehmende Augen­krank­heiten und ein Leitsymptom für die beim Kläger vorliegenden Retinoblastome ist. In diesem sogenannten fundamentalen Diag-noseirrtum liegt ein grober Behand­lungs­fehler, der dazu geführt hat, dass beim Kläger nicht nur die Entfernung des rechten, bereits vollständig erblindeten Augapfels erfolgen musste, sondern auch diejenige des linken Augapfels. Nach der Darstellung des Sachver­ständigen hätte das rechte Auge in jedem Fall entfernt werden müssen, ohne zeitliche Verzögerung wäre aber im linken Auge möglicherweise eine Sehschärfe von 30 % erhalten geblieben. Deshalb war der Fehler des Beklagten geeignet, den eingetretenen Erfolg (Wachstum der Tumore, Erblindung und Notwendigkeit der Entfernung auch des linken Auges) herbeizuführen. Den Beweis, dass in jedem Fall eine vollständige Erblindung eingetreten wäre, hat der Beklagte nicht erbracht.

Dem Kläger steht wegen der erheblichen Gesund­heits­be­ein­träch­tigung eine angemessene Ent-schädigung zu. Hier fällt die schwere Gesund­heits­schä­digung ins Gewicht, die die gesamte Le-bensführung in erheblichem Umfang beeinträchtigen wird. Bei einer verbleibenden Sehschärfe von 30 % auf dem linken Auge hätte der Kläger sich in seiner Umgebung orientieren können, er hätte - wenn auch unscharf - auf alle Entfernungen sehen, eine übliche Schulausbildung durchlaufen können und auch eine erheblich freiere Berufswahl gehabt. Darüber hinaus ist ausnahmsweise das Regulie­rungs­ver­halten der Haftpflicht­ver­si­cherung des Beklagten schmer­zens­gel­der­höhend zu berücksichtigen. Zwar steht es dem Beklagten frei, sich gegen den Vorwurf eines Behand­lungs­fehlers zu verteidigen und auch Rechts­mit­tel­mög­lich­keiten auszuschöpfen. Jedoch hat hier die ärztliche Gutachterstelle bereits 2002 eines Behand­lungs­fehlers konstatiert. Alle Sachver­ständigen, mit Ausnahme eines von allen als unhaltbar bezeichneten Privat­sach­ver­stän­di­gen­gut­achtens des Versicherers, haben nicht an dem Behand­lungs­fehler des Beklagten gezweifelt. Dennoch hat die Haftpflicht­ver­si­cherung keinerlei Bereitschaft zur Regulierung gezeigt, sondern über weitere 4 Jahre die klaren Gutachten in Zweifel gezogen. Dies geht über das hinzunehmende Maß der Verteidigung einer Versicherung hinaus.

Der Senat hat einen Kapitalbetrag von 90.000 Euro als angemessen erachtet. Der Kapitalbetrag, den das Landgericht neben der Rente zugesprochen hat, liegt weit oberhalb dessen, was die Rechtsprechung in der Regel für vergleichbare Fälle als Schmerzensgeld gewährt. Hinsichtlich des Rentenbetrages, des materiellen Schaden­s­er­satzes für die Eltern und der Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden hat der Senat die landge­richtliche Entscheidung bestätigt.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des OLG Karlsruhe vom 19.11.2007

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