18.10.2024
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Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss23.02.2006

Kindes­ent­führung durch einen Elternteil - zur Beachtlichkeit des KindeswillensAuch gegen den Wunsch eines achtjährigen Kindes kann die Rückführung in den Vertragsstaat nach dem Haager Kindes­ent­füh­rungs­über­ein­kommen angeordnet werden

Mit der Frage der Beachtlichkeit des Kindeswillens im Rahmen einer Rückfüh­rungs­a­n­ordnung nach dem Haager Kindes­ent­füh­rungs­über­ein­kommen musste sich der 2. Familiensenat des Oberlan­des­ge­richts Karlsruhe beschäftigen.

Der Vater des Kindes ist deutscher Staats­an­ge­höriger, die Mutter besitzt die Staats­an­ge­hö­rigkeit des Landes X. Das 1997 geborene Kind A. besitzt beide Staats­an­ge­hö­rig­keiten. Die Parteien unterhielten zwei Wohnsitze in Deutschland und X., wobei sich Mutter und Kind überwiegend in X. aufhielten. Dort besuchte A. den Kindergarten und die Mittelschule. Nach der Trennung der Eltern im November 2004 reisten sie gemeinsam nach Deutschland. Der Vater wollte das Kind in Deutschland behalten, während die Mutter darauf bestand, zum Schulbeginn mit dem Kind nach X. zurückzukehren. Ohne eine Entscheidung des zuständigen Famili­en­ge­richts nach dem Haager Kindes­ent­füh­rungs­über­ein­kommen abzuwarten, reist die Mutter mit A. nach X zurück. Darauf zog auch der Vater wieder nach X. Im April 2005 wurde die Ehe der Eltern in X. geschieden und bestimmt, dass das Kind „mit der Mutter bleiben soll". Nach einer vom Gericht im Land X. bestätigten Vereinbarung der Eltern wurde gleichzeitig die dortige Wohnung der Mutter zum Wohnort des Kindes bestimmt und darüber hinaus festgelegt, dass sich die Ausreise des Kindes nach den Gesetzen der Republik X. bestimmen sollte, die für die Ausreise von Kindern mit der Staats­an­ge­hö­rigkeit des Landes X. eine Zustimmung des anderen Elternteils vorsehen.

Im Mai 2005 brachte die Mutter das Kind ohne Zustimmung des Vaters in die Bundesrepublik Deutschland, wo sich beide seither aufhalten.

Mit Beschluss vom 14. Dezember 2005 hat das Familiengericht Karlsruhe auf Antrag des Vaters die Rückführung des Kindes angeordnet.

Die dagegen gerichtete Beschwerde der Mutter zum Oberlan­des­gericht Karlsruhe blieb ohne Erfolg: Die Mutter hat das Kind widerrechtlich i.S. von Art. 3 HKÜ nach Deutschland verbracht. Nach Art. 12 HKÜ ist in einem solchen Fall grundsätzlich auf Antrag die Rückführung des Kindes in das Herkunftsland anzuordnen. Der Mutter steht nach der Vereinbarung der Eheleute lediglich das Aufent­halts­be­stim­mungsrecht innerhalb von X. allein zu, nicht aber die Entscheidung über eine Verlegung des Wohnsitzes nach Deutschland, die als Teil der gemeinsamen elterlichen Sorge beiden Eltern verblieben ist. Deshalb muss A. nach X. zurückkehren und in einem Verfahren in X. über das Sorgerecht entschieden werden. Ein Ausnah­me­tat­bestand gem. Art. 13 HKÜ war nicht gegeben. Dass A. selbst nicht zurückkehren will, ist nicht erheblich. Nach Artikel 13 Abs. 2 HKÜ ist der Wille des Kindes nur dann beachtlich, wenn festgestellt werden kann, dass das Kind ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen. Die Vorschrift enthält keine starre Altersgrenze. Da in Entfüh­rungs­fällen vieles dafür spricht, dass der Wille des Kindes durch den betreuenden Eltern gezielt beeinflusst ist, kann es im Rahmen des Artikel 13 Abs. 2 HKÜ allein darum gehen, ob der Kindeswille zu beachten ist, weil er bereits so verfestigt ist, dass er nicht mehr einfach - d. h. ohne psychischen Schaden anzurichten, also ohne Kindes­wohl­ge­fährdung - veränderbar ist, etwa durch die Veränderung der Sozialisations- und Erzie­hungs­be­din­gungen oder auch durch Erziehungs- und Fürsor­ge­maß­nahmen der Betreu­ungs­person. Dies wird - abhängig von der Individualität des einzelnen Kindes - ab einem Kindesalter von ca. 10 Jahren angenommen. Nach der Anhörung des Kindes gelangte der Senat jedoch zur Überzeugung, dass der Wille des Kindes zwar bereits zielorientiert und momentan auch sehr intensiv ist, dass A. aufgrund seines erkennbar noch altersgerechten psychischen Entwick­lungs­standes aber bei einer von der Mutter begleiteten Veränderung der Lebens­be­din­gungen in hohem Maße anpassungsfähig sein wird, so dass es sich schnell mit den veränderten Gegebenheiten arrangieren wird. Eine positive Einflussnahme ist von der Mutter, die das Kind durch ihre rechtswidrige Entführung in diese Lage gebracht hat, zu erwarten. Der Kindeswille kann erst im Sorge­rechts­ver­fahren im Land X. nach der Rückkehr berücksichtigt werden.

Es ließ sich auch nicht feststellen, dass die Rückführung des Kindes mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens verbunden ist oder das Kind auf eine andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (Art. 13 Abs. 1 b HKÜ). Unvermeidliche Folgen eines neuen Aufent­halts­wechsels, auch ein Wechsel in ein anderes Sprach- oder Kulturgebiet, vermögen eine schwerwiegende Gefahr nicht zu begründen. Die Hinnahme des Rechtsbruchs durch den verbringenden Elternteil ist nämlich nur bei einer ungewöhnlich schwerwiegenden Beein­träch­tigung des Kindeswohls gerechtfertigt. Unerheblich ist auch, ob das Kind beim Entführer oder beim anderen Elternteil besser aufgehoben ist, darüber ist erst im Herkunftsland im Rahmen einer Sorge­recht­s­ent­scheidung zu befinden. Von einer das Kindeswohl nicht gefährdenden Betreuung in X. ist auszugehen. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Mutter zusammen mit dem Kind zurückkehrt und so einer etwaigen Gefährdung begegnet wird. Das muss der entführende Elternteil nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts auch dann auf sich nehmen, wenn er selbst dadurch Nachteile erleidet. Da die Mutter die nunmehr verfahrene Situation durch die rechtswidrige Entführung selbst geschaffen hat, ist es ihr verwehrt, sich auf ihre neuen familiären Beziehungen zum neuen Ehemann und dem gemeinsamen Kleinkind als Hinderungsgrund für eine Rückführung zu berufen.

Artikel 13 Abs. 2 HKÜ:

Erläuterungen
Das Gericht oder die Verwal­tungs­behörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des OLG Karlsruhe vom 17.03.2006

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