18.10.2024
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Sie sehen, wie während einer Hochzeit die Ringe angesteckt werden.

Dokument-Nr. 6739

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Oberlandesgericht Hamm Beschluss24.05.2007

Eltern dürfen Kind sterben lassenWachkoma: Eltern dürfen Zustimmung zu Fortsetzung lebens­er­hal­tender Maßnahmen ihres Kindes verweigern

Das Oberlan­des­gericht Hamm gab Eltern Recht, die die lebens­er­hal­tenden Maßnahmen für ihre im Wachkoma liegende vierjährige Tochter nicht fortsetzen lassen wollten.

Mit dieser Entscheidung hob das Oberlan­des­gericht (OLG) den zuvor ergangenen Beschluss des Amtsgerichts Minden auf, welches den Eltern einen Teil der elterlichen Sorge für ihre Tochter entzogen hatte, nämlich das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesund­heits­fürsorge. Zugleich hatte es eine Pflegschaft für das Kind eingerichtet. Zur Begründung hatte das Amtsgericht ausgeführt, die Absicht der Eltern, lebens­er­haltende medizinische Maßnahmen bei ihrem Kind sowie die künstliche Ernährung beenden zu wollen mit der Konsequenz, dass das Kind sterbe, gefährde das Kindeswohl und überschreite den ihnen zuzubilligenden Ermes­sens­spielraum. Denn ob und inwieweit künftig eine Wieder­her­stellung zumindest insoweit möglich sein werde, dass dem Kind zumindest eine basale Teilhabe am Leben ermöglicht werden könnte, sei offen.

Vierjähriges Kind im Wachkoma ohne Chance auf Besserung

Die Eltern hatten sich gegen diesen Beschluss des Amtsgericht gewandt. Sie begründeten dies damit, dass der Zustand ihres sich im apallischen Syndrom befindenden Kindes irreversibel sei. Dies bedeute nach schul­me­di­zi­nischem Konsens, dass es für immer ohne Bewusstsein sei und für immer kognitive Denkvorgänge der Großrinde unmöglich seien, weil für diese eben eine Funktion der Großhirnrinde notwendig sei, welche bei dem Kind irreversibel geschädigt sei (apallisch).

Eltern entscheiden über ärztliche Behandlung ihres Kindes

Die Eltern führten aus, dass bei minderjährigen Kindern die Eltern das Recht hätten, für das Kind die Zustimmung zu einer ärztlichen Behandlung zu erklären oder zu verweigern. Angesichts des Alters ihres Kindes von nur vier Jahren bedürfe es keiner vertiefenden Betrachtung, dass die Eltern dabei mit wachsender Reife die eigenen Wünsche des Kindes zu beachten hätten. Den Eltern stehe es gemäß Artikel 6 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) als natürliches Recht und als die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht zu, für ihr Kind Entscheidungen über die Zuführung zu ärztlicher Behandlung zu treffen. Ihnen als Eltern stehe ein verfas­sungsmäßig garantiertes Grundrecht zu, eine Entscheidung für ihr Kind nach ihrer eigenen elterlichen Wertewelt zu treffen. Sie dürften aktuell für das Kind so entscheiden, wie sie auch aktuell über ihre eigene Behandlung entscheiden dürften. Dies sei der Kerngehalt des Grundrechts des Artikel 6 GG.

Grenze der elterlichen Entscheidung: Objektives Kindeswohl

Dieses Grundrecht finde seine Grenzen nur im objektiven Wohl des Kindes. Sie hätten sich als Eltern entschieden, ihr Kind sterben zu lassen, indem die künstliche Lebenserhaltung durch die Ernäh­rungs­therapie beendet werde. Der Sterbevorgang solle pallia­tiv­me­di­zinisch so therapiert werden, dass das Kind nach ärztlichem und menschlichem Ermessen nicht einmal über basale Wahrnehmungen Leid empfinden könne. Das Zulassen des symptomfreien Sterbens widerspreche nicht dem Wohl des Kindes. Zum einen leide es an der schwersten Gesund­heits­schä­digung, die ein Mensch erleiden könne. Zum anderen sei auszuschließen, dass sich an diesem Zustand jemals etwas Gravierendes ändere. Einziges Ziel der lebens­er­hal­tenden Therapie sei das Erreichen der Schmerz­lo­sigkeit unter Inkaufnahme der weitgehenden Reduzierung selbst basaler Reatkti­o­ns­fä­hig­keiten. Es solle also das Empfinden des Schmerzes durch das gänzliche Ausschalten von letzten Empfin­dungs­mög­lich­keiten des allein funkti­o­nie­renden Stammhirns ausgeschlossen werden. Damit entfielen aber auch die letzten Argumente für eine Lebenserhaltung des Kindes, nämlich das wenigstens basale Teilnehmen an der Umwelt. Es gehe nicht um eine Entscheidung darüber, ob das Leben eines solchermaßen leidenden Wachko­ma­pa­tienten lebenswert oder lebensunwert sei. Es gehe in diesem Verfahren allein darum, ob die Eltern mit der Entscheidung, ihr Kind sterben zu lassen, ihren verfas­sungs­rechtlich geschützten Entschei­dungs­spielraum überschritten hätten.

Oberlan­des­gericht gibt Eltern Recht

Das Oberlan­des­gericht Hamm gab den Eltern in seiner Entscheidung recht. Eine Kontaktaufnahme des Kindes im Sinne einer bewussten Willens­be­stä­tigung oder auch nur als Zeichen vorhandenen Bewusstseins lasse sich nach gegenwärtigem Erkenntnisstand und dem Stand der medizinischen Wissenschaft mit Sicherheit ausschließen. Das gelte auch für eine Kommunikation auf „nonverbaler Ebene“, soweit damit irgendeine Bewusst­seins­be­tä­tigung gemeint sei. Soweit damit aber nur reflexartige Reaktionen auf eingebrachte körperliche Reize gemeint seien, seien diese nach zutreffender Ansicht aller Beteiligter auch weiterhin möglich, aber als reine Stamm­hirn­funk­tionen keine geeigneten Anzeichen für Reste von Bewusstsein. Soweit der durch das Amtsgericht eingesetzte Amtspfleger in seiner Stellungnahme die Möglichkeit zu einer Wieder­her­stellung der Fähigkeit des Kindes zu einer Kontaktaufnahme unterstelle, gehe er von falschen Voraussetzungen aus.

Voraussetzungen für Sorge­rechts­entzug nicht gegeben – Eltern wahren Kindeswohl

Die Voraussetzungen für einen – auch nur partiellen – Sorge­rechts­entzug gemäß §§ 1666, 1666 a BGB, so das OLG, ließen sich nicht feststellen. Die Eltern hätten, ausgehend von zutreffenden tatsächlichen Gegebenheiten und in Kenntnis ihrer Rechte, Pflichten und ihrer Verantwortung, eine nach bürgerlichem Recht und verfas­sungs­rechtlich garantiert zuvörderst ihnen zukommende Entscheidung nach reiflicher Überlegung getroffen. Anhaltspunkte für einen Sorge­rechts­miss­brauch lägen nicht vor. Maßstab sei insoweit nicht, ob ein anderer Entschei­dungs­träger ein ihm zustehendes Ermessen möglicherweise anders ausgeübt hätte. Jedenfalls wäre das Ermessen nicht zwingend auszuüben.

Das letzte Wort haben die Eltern

Ein Sorge­rechts­miss­brauch ergebe sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass die Entscheidung der Eltern möglicherweise oder sogar wahrscheinlich den Tod des Kindes zur Folge hätte. In ihrer konkreten Situation ohne die Perspektive einer Besserung seiner gesund­heit­lichen Situation, ohne nach medizinischem Ermessen greifbare Wahrschein­lichkeit der Wiedererlangung irgendeiner Bewusst­seins­funktion und einhergehend mit weiteren gesund­heit­lichen Beein­träch­ti­gungen, die nur durch weitere invasive Eingriffe gemildert werden könnten, erscheine dem Gericht auch aus Sicht des Kindeswohls im Lichte des mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechts auf eine menschenwürdige Behandlung die Entscheidung, einer Fortsetzung der lebens­er­hal­tenden Maßnahmen nicht weiter zustimmen zu wollen, als einfühlbar und das Kindeswohl wahrend.

Artikel 6 GG

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

§ 1666 [Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls]

(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.

(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere […]

5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,

6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.

§ 1666 a BGB [Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit; Vorrang öffentlicher Hilfen]

(1) Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. […]

(2) Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.

Quelle: ra-online

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