Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Beim Überqueren eines Fußgängerüberwegs bei "grün" wurde eine Fußgängerin von einem links abbiegenden Lkw angefahren. Sie klagte aufgrund dessen auf Feststellung, dass ihr ein Schadensersatz- und Schmerzensgeldanspruch zu stehe. Der Lkw-Fahrer erkannte eine Mitschuld in Höhe von 60 % an, wies aber eine weitergehende Verantwortlichkeit zurück. Er gab an, dass er die Fußgängerin beim Anfahren nicht habe sehen können. Ein Blick aus dem Fenster der Fahrertür sei ihm nicht zumutbar gewesen. Seiner Meinung nach habe die Fußgängerin zudem auf den abbiegenden Verkehr achten müssen.
Das Landgericht Zwickau gab der Feststellungsklage statt. Der Fußgängerin habe dem Grunde nach ohne Berücksichtigung eines Mitverschuldens ein Schadens- und Schmerzensgeldanspruch zugestanden. Der Fußgängerin sei zwar ein leichtfertiges Verhalten vorzuwerfen gewesen. Dieses habe aber hinter der Betriebsgefahr des Lkw sowie der Missachtung des Vorrangs des Fußgängerverkehrs vollständig zurücktreten müssen. Gegen diese Entscheidung legte der Lkw-Fahrer Berufung ein.
Das Oberlandesgericht Dresden bestätigte die Entscheidung des Landgerichts und beabsichtigte daher die Berufung des Lkw-Fahrers zurückzuweisen. Der Lkw-Fahrer habe vollständig für die Unfallfolgen einstehen müssen. Er habe grob fahrlässig den Vorrang des Fußgängers gemäß § 9 Abs. 2 Satz 2 StVO missachtet.
Es sei zwar richtig, so dass Oberlandesgericht, dass die Fußgängerin im Moment des Anfahrens von der Haltelinie wegen der baulichen Gegebenheiten vom Lkw-Fahrer noch nicht erkennbar gewesen sei. Er sei deshalb aber gehalten gewesen, sich im Zuge des Abbiegens spätestens bei Annäherung an den Fußgängerüberweg ausreichend zu vergewissern, ob er den zuvor nicht erkennbaren oder aber erst später den Überweg betretenden Fußgänger dem ihm gebührenden Vorrang einräumen müsse. Dabei sei auch ein Blick aus dem Fenster der Fahrertür nicht unzumutbar. Der Lkw-Fahrer habe keinesfalls darauf vertrauen dürfen, dass der Überweg für ihn frei sei.
Der Fußgängerin sei nach Ansicht des Oberlandesgerichts kein Mitverschulden vorzuwerfen. Zwar sei für sie erkennbar gewesen, dass ein Linksabbieger sie beim Anfahren noch nicht habe sehen können, als sie den Fußgängerüberweg betrat. Allerding habe sie ohne weitere, konkrete Anhaltspunkte darauf vertrauen dürfen, dass ein Linksabbieger nicht ohne ausreichende Vergewisserung einfach den Fußgängerüberweg, noch dazu bei für die Fußgänger "grün" zeigende Ampel, passieren würde. Anhaltspunkte für eine Missachtung könne zum Beispiel eine sehr hohe Geschwindigkeit, starke Beschleunigung oder erkennbare Zeichen des Abgelenktseins des Fahrers sein. Ohne solche Anhaltspunkte müsse sich ein Fußgänger nicht ständig, auch nach sicherem Betreten des Übergangs nach allen Seiten vergewissern und entgegen dem für ihn geltenden Vertrauensgrundsatz stets vorsorglich anhalten, wenn sich ein Fahrzeug nähert.
Selbst bei Annahme eines allenfalls leichten Mitverschuldens der Fußgängerin, würde dies nach Ansicht des Oberlandesgerichts angesichts der schon wegen der Sichtbehinderung deutlich erhöhten Betriebsgefahr des Lkw sowie des groben Verschulden des Lkw-Fahrers nichts an der Alleinhaftung des Lkw-Fahrers ändern.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 06.12.2016
Quelle: Oberlandesgericht Dresden, ra-online (vt/rb)