21.11.2024
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Beschluss27.08.2015

Kinder­gar­tenkind mit Erdnussallergie hat Anspruch auf Kostenübernahme für persönliche AssistenzSchwere Nahrungs­mittel­allergie ist insbesondere bei Kindern regelmäßig als Behinderung anzusehen

Das Landes­so­zi­al­gericht Niedersachsen-Bremen hat im Rahmen eines Eilverfahrens entschieden, dass ein Sozia­l­hil­fe­träger die Kosten für eine persönliche Assistenz zur Betreuung eines Kleinkindes mit hochgradiger Lebens­mittel­allergie (Erdnussallergie) während des Besuchs einer Kinder­ta­gesstätte vorläufig übernehmen muss.

Der im Landkreis Cuxhaven lebende vierjährige Antragsteller leidet an einer hochgradigen Erdnussallergie mit einem hohen Risiko einer systemischen allergischen Reaktion bis hin zum lebens­be­droh­lichen anaphy­lak­tischen Schock. In dem bis zur Diagnose im Dezember 2014 vom Antragsteller besuchten Kindergarten konnte nicht gewährleistet werden, dass der Antragsteller keine Erdnüsse oder erdnusshaltigen Lebensmittel zu sich nimmt. Der Antragsteller wurde deshalb seit diesem Zeitpunkt von seinen berufstätigen Eltern, seiner Großmutter und einer ebenfalls berufstätigen Tante zu Hause betreut. Versuche seiner Eltern, die Kita in Zusammenarbeit mit den Erzieherinnen und Eltern der anderen Kinder „erdnussfrei“ zu gestalten, also das Risiko einer ungewollten Aufnahme von Allergenen zu minimieren, scheiterten.

Sozia­l­hil­fe­träger lehnt Kostenübernahme für persönliche Assistenz ab

Der Antragsgegner - der zuständige Sozia­l­hil­fe­träger - lehnte den bereits Ende 2014 bei ihm gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten für eine persönliche Assistenz während des Kinder­gar­ten­besuchs ab. Der bei dem Sozialgericht (SG) Stade gestellte Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes blieb erfolglos.

LSG bejaht Anspruch auf Einglie­de­rungshilfe

Das Landes­so­zi­al­gericht Niedersachsen-Bremen hat diese Entscheidung aufgehoben und den Sozia­l­hil­fe­träger im einstweiligen Rechts­schutz­ver­fahren vorläufig verpflichtet, die Kosten für eine persönliche Assistenz für den Besuch des Antragstellers in der Kindertagesstätte in einem Wochenumfang von 20 Stunden zu übernehmen. Mit Rücksicht auf die Bedeutung des Besuchs einer Kinder­ta­gesstätte für die kindliche Entwicklung sei es dem Antragsteller nicht zuzumuten, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Er habe einen Anspruch auf Eingliederungshilfe glaubhaft gemacht, da eine schwere Nahrungs­mit­tel­a­llergie - insbesondere bei Kindern - regelmäßig als Behinderung im Sinne des § 2 SGB IX anzusehen sei.

Kleinkind bedarf während des Besuches des Kindergartens durchgängig der Beobachtung und Begleitung

Es sei glaubhaft gemacht worden, dass erst durch eine persönliche Assistenz für den Besuch des Kindergartens die besondere Aufgabe der Einglie­de­rungshilfe, hier die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, ermöglicht werden kann. Nach den Feststellungen des Gesund­heit­samtes bedürfe der Antragsteller während des Besuches des Kindergartens durchgängig der Beobachtung und Begleitung durch eine sachlich unterwiesene Person, um zu verhindern, dass er mit Erdnüssen, „Erdnuss­pro­dukten“ oder auch nur Spuren von erdnusshaltigen Lebensmitteln in Kontakt komme. Eine besonders qualifizierte Fachkraft (z.B. Kranken­schwester) sei aber nicht erforderlich. Im Kindergarten werde eine zusätzliche Assistenzkraft de facto nicht vorgehalten. Zudem sei der Antragsteller auch nicht ohne weiteres in der Lage, durch ein - ggf. zivil­recht­liches - Vorgehen gegen den Träger des Kindergartens die Stellung einer (weiteren) Assistenzkraft durchzusetzen.

Gemeinde lehnt Aufnahme des Kindes in ihren Kindergärten ohne weitere Assistenzkraft wegen gesund­heit­licher Risiken ab

Nach dem gegenwärtigen Sachstand könne der Antragsteller ohne die begehrte Hilfe auch nicht in zumutbarer Weise in einem anderen Kindergarten inner- oder außerhalb der Wohnortgemeinde betreut werden, entschied das Gericht. Die Gemeinde selbst habe die Aufnahme des Antragstellers in ihren Kindergärten - ohne weitere Assistenzkraft - wegen der gesund­heit­lichen Risiken abgelehnt. Auch scheide eine Betreuung durch eine Tages­pfle­ge­person derzeit aus. Ungeachtet der vom Gericht geäußerten Zweifel, ob die Betreuung des Antragsstellers durch eine Tages­pfle­ge­person in gleicher Weise geeignet sei, die Aufgabe der Einglie­de­rungshilfe zu erfüllen, wie die Betreuung in einem Kindergarten, sei nicht geklärt, dass dem Antragsteller eine zumutbare Betreu­ung­s­al­ter­native durch eine Tages­pfle­ge­person konkret zur Verfügung steht. Die vom Antragsgegner vorgeschlagene Betreu­ungs­mög­lichkeit komme zum einen wegen der Entfernung zu seinem Wohnort (ca. 18 km), zum anderen wegen des Umstandes, dass die vorgeschlagene Tages­pfle­ge­person derzeit vormittags nur zwei- bis dreijährige Kinder betreut, nicht in Betracht. Weitere Betreu­ung­s­al­ter­nativen, für die der Antragsgegner die Beweislast trage, seien nicht ersichtlich.

Sozial­ge­setzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022) in der Fassung vom 27. Dezember 2013 (gültig seit 1. Januar 2005) zitiert nach juris

Eingliederungshilfe

Eingliederungshilfe für behinderte Menschen'>

§ 53 Leistungs­be­rechtigte und Aufgabe

(1) Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen der Einglie­de­rungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Einglie­de­rungshilfe erfüllt werden kann.

Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Einglie­de­rungshilfe erhalten.

[...]

(3) Besondere Aufgabe der Einglie­de­rungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern.

Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.

Sozial­ge­setzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (Artikel 1 des Gesetzes v. 19.6.2001, BGBl. I S. 1046)

§ 2 Behinderung

Erläuterungen

(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrschein­lichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Quelle: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen/ra-online

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