Dokument-Nr. 20864
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Entscheidung04.08.2014
Winterliche Straßenverhältnisse: Unfall auf einem witterungsbedingt gewählten längeren Arbeitsweg ist als Wegeunfall anzuerkennenVermeidung des üblichen kürzeren Arbeitsweges wegen einer gefährlichen Wetterlage stellt situationsangemessenes Verhalten dar
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat entschieden, dass es ein situationsangemessenes Verhalten ist, wenn bei winterlichen Straßenverhältnissen am Vorabend zur Fahrt zur Arbeit nicht zunächst der Heimweg erfolgt, sondern der Weg zur Arbeit von einem dritten Ort aus angetreten wird - auch, wenn dieser Weg im Verhältnis zum gewöhnlichen Weg von der eigenen Wohnung aus erheblich länger ist.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der normale Weg der Klägerin von ihrer Wohnung zur Arbeitsstelle betrug 26 Kilometer. Am Unfalltag fuhr sie jedoch nicht von ihrer Wohnung aus zur Arbeit, sondern trat die Fahrt von der Wohnung ihres Freundes aus an, wo sie zuvor übernachtet hatte. Diese Wegstrecke betrug zwischen 86 und 101 Kilometer (je nach Route). Bei winterglatter Straße kam sie von der Fahrbahn ab, prallte gegen einen Baum und erlitt ein schweres Schädelhirntrauma. Die Klägerin hat angeführt, sie habe vor dem Unfall nur deshalb in der Wohnung ihres Freundes übernachtet, weil aufgrund starken Schneefalls die Gefahr bestanden habe, nicht gesund und arbeitsfähig nach Hause zu kommen.
Berufsgenossenschaft lehnt Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab
Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte die Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall (hier: Wegeunfall) ab. Der Weg von der Wohnung des Freundes (sogenannter dritter Ort) habe nicht in einem angemessenen Verhältnis zum üblichen Berufsweg gestanden. Das Sozialgericht hat diese Entscheidung bestätigt.
Gutachten des Deutschen Wetterdienstes belegt winterliche Straßenverhältnisse
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat ein Gutachten des Deutschen Wetterdienstes eingeholt. Danach wurde das Gebiet zwischen der Wohnung des Freundes und der Wohnung der Klägerin am Vorabend des Unfalls wiederholt von Schneeschauern überquert. Der Boden war von einer durchbrochenen Schneedecke bedeckt; zudem kam es wegen der Abwechslung zwischen positiven Temperaturmaxima und negativen Temperaturminima zu vereisten Stellen infolge überfrierender Nässe.
Verhalten der Klägerin war angesichts der Wetterlage situationsangemessen
Angesichts dieser winterlichen Straßenverhältnisses hat das Landessozialgericht die Entscheidungen der Berufsgenossenschaft und des Sozialgerichts aufgehoben und entschieden, dass die Klägerin unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe. Zwar sei der Weg von der Wohnung ihres Freundes aus gegenüber dem gewöhnlichen Arbeitsweg um fast das Vierfache überhöht gewesen. Es sei jedoch entgegen der Ansicht der Berufsgenossenschaft nicht nur auf die Länge der Wegstrecke abzustellen, sondern auf die Umstände des Einzelfalls. Es gäbe daher keine mathematische Angemessenheitsformel, so dass in die Angemessenheitsbeurteilung auch der Zustand der Straßen einzubeziehen sei. Deshalb müsse in Anwendung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Unfallversicherungsschutz bei Umwegen auch ein längerer Weg als noch betriebsbedingt angesehen werden, wenn er deshalb eingeschlagen werde, weil der übliche kürzere Weg objektiv nachvollziehbar wegen einer gefährlichen Wetterlage versperrt sei. Die Klägerin habe sich angesichts der Wetterlage situationsangemessen verhalten, als sie auf die Heimfahrt bereits am Vorabend verzichtet und stattdessen den Arbeitsweg am nächsten Morgen angetreten habe - auch, wenn sich der Arbeitsweg deshalb erheblich verlängert habe.
§ 8 SGB VII - zitiert nach juris
Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)
§ 8 Arbeitsunfall
Erläuterungen
(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. (2) Versicherte Tätigkeiten sind auch
1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,
2. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um
a) Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder
b) mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,
3. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, dass die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden,
4. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben,
5. das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.
(3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 07.04.2015
Quelle: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen/ra-online
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