21.11.2024
21.11.2024  
Sie sehen eine Szene aus einem Krankenhaus, speziell mit einem OP-Saal und einem Arzt im Vordergrund.
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Landgericht München I Urteil02.03.2005

Münchner Bub erhält 350.000 € Schmerzensgeld und zusätzliche Schmer­zens­geldrente von 500 € pro Monat

Einen besonders tragischen Fall hatte die für Arzthaf­tungs­sachen zuständige 9. Zivilkammer des Landgerichts München I zu beurteilen. In einer Münchner Klinik verabreichte die Hebamme trotz Hinweises der Mutter auf eine bestehende Arznei­mit­te­lun­ver­träg­lichkeit dieser gegen den Wehenschmerz ein Medikament mit einem Wirkstoff, auf den sie allergisch war. Der dadurch ausgelöste Kreislaufschock führte trotz sofort eingeleiteter Geburt zu schwersten und dauerhaft irreparablen Geburtsschäden bei dem heute 9 Jahre alten Kind, dessen Gehirn während der Geburt nicht ausreichend versorgt worden war. Die Richter stellten das seinerzeitige Geschehen wie folgt fest:

Die Mutter des Klägers begab sich nach einem normalen Schwan­ger­schafts­verlauf am 15... gegen 16.00 Uhr aufgrund eines vorzeitigen Blasensprunges in das Städtische Krankenhaus München- Harlaching. Errechneter Geburtstermin war der 22... . Die Aufnahme erfolgte durch die Beklagte zu 3). Um 20.45 Uhr übernahm die Beklagte zu 2) die Betreuung der Mutter des Klägers.

Obwohl die Mutter des Klägers sowohl im Rahmen der Aufnah­me­un­ter­suchung eine Allergie auf das Schmerzmittel O... angegeben hatte, die auch in dem als Anlage K 1 zu den Akten gereichten, von der Beklagten zu 3) ausgefüllten Aufnahmebogen vermerkt worden war, als auch sich ein Vermerk auf diese Allergie in dem als Anlage K 2 zu den Akten gereichten Mutterpass findet, der der Beklagten zu 3) bei Aufnahme ebenfalls ausgehändigt wurde, verabreichte die Beklagte zu 2) der Mutter des Klägers gegen 22.00 Uhr wegen starker Wehentätigkeit Schmerzmittel. Verabreicht wurde das Schmerzmittel S... in Form eines Suppositoriums, das ebenso wie das Medikament O..., auf das die bekannte Allergie bestand, den Wirkstoff Propyphenazon enthält. Die Mutter des Klägers reagierte auf die Gabe dieses Medikamentes daher innerhalb weniger Minuten mit einem allergisch bedingten Kreislaufschock. Nach Verlegung in den Kreissaal um 22.23 Uhr zeigte das CTG, das bis dahin keinerlei Auffälligkeiten gezeigt hatte, eine Herzfrequenz von 100, später 90. Es wurden deshalb die Ärzte Dr. S..., Dr. B... und Oberarzt Dr. F... hinzugezogen, der eine Vakuu­m­ex­traktion in Sectio­be­reit­schaft anordnete und den Kläger so unter Durchführung eines Dammschnittes aus Hinter­hauptslage um 22.40 Uhr entwickelte.

Der Kläger wurde als normal reifes männliches Kind mit einem Geburtsgewicht von 3.560 g und einer Geburts­kör­perlänge von 50 cm sowie einem Geburts­kop­f­umfang von 36 cm und einem Apgar-Wert von 2/5/8 geboren. Direkt nach der Geburt war der Kläger grauzyanotisch, vollkommen schlaff und ohne Atemtätigkeit. Er wurde durch den bereitstehenden Kinderarzt notfa­ll­be­handelt, nachfolgend in die Kinderklinik verlegt und dort 3 Wochen stationär behandelt, sowie 9 Tage beatmet. Am zweiten Lebenstag kam es zu Neugeborenen-Krämpfen. Im Schädel­so­nogramm fand man ein leichtes Hirnödem. Es wurde weiter die Diagnose einer perinatalen Hypoxie sowie eines Hyper­ex­zi­ta­bi­li­täts­syndroms gestellt.

Krankenhaus und Hebammen erkannten die Haftung für den folgenreichen Fehler an. Ihre Versicherung überwies der Familie 500.000 DM, je zur Hälfte als Schmerzensgeld und als Anzahlung auf den in der Vergangenheit bereits angefallenen Pflege­mehr­aufwand, da der Kläger sich bis heute weder fortbewegen noch auch nur annähernd selbst versorgen kann.

In dem Prozess ging es daher allein um die Feststellung des genauen Ausmaßes der Schädigung und um die Bemessung eines angemessenen Schmer­zens­geldes, das der Versicherung auch für zukünftige vergleichbar schwerwiegende Fälle als Anhaltspunkt dienen könnte. Das Gericht überzeugte sich durch Anhörung eines Sachver­ständigen, Auswertung der Krankenakten und Anhörung der Mutter des Klägers vom Umfang der erlittenen Behinderung des Buben. Dieser ist bis heute völlig hilflos. Er ist nicht in der Lage, zielgerichtet zu greifen, kann weder sprechen, noch selbständig Nahrung aufnehmen oder sich mit eigenem Spiel beschäftigen. Er kann ohne Hilfe noch nicht einmal robben oder sich vom Bauch auf den Rücken drehen. Da er im wesentlichen nur Liegen kann, leidet er häufig unter Atemwegs­er­kran­kungen. Eine Verbesserung des Zustandes ist nicht in Sicht. Laut Sachver­ständigen muss auf Dauer eher mit weiteren Verschlech­te­rungen gerechnet werden.

Die Beweisaufnahme ergab auch, dass der Kläger trotz aller Beein­träch­ti­gungen durchaus in der Lage ist, seine Umwelt wahrzunehmen und Gesprächen zu folgen. Er kann sich durch Mimik und einzelne Laute auch bis zu einem gewissen Grad verständlich machen, Freude äußern und lachen. Er sieht gerne fern und mag es, Musik zu hören. Seine Mutter berichtete weiter davon, dass er auch seine Unzufriedenheit äußert, wenn er etwas machen will, aber feststellen muss, dass er es nicht kann. Der Umstand, dass der Bub also durchaus in der Lage ist, seine Umwelt und damit auch den Grad seiner Beein­träch­tigung wahrzunehmen, spielte daher auch eine wichtige Rolle für die Entscheidung der Kammer, dem Kind nicht nur einen einmaligen Schmer­zens­geld­betrag, sondern auch eine lebenslange Schmer­zens­geldrente zuzusprechen und dabei eine Gesamtsumme zuzubilligen, die bislang in Deutschland kaum je erreicht worden sein dürfte. Die Kammer führte zur Begründung aus:

Ausschlaggebend war freilich die schwerste und nahezu das gesamte Leben des Klägers weitgehend zerstörende Behinderung, die dem Kläger zugefügt wurde. Das Ausmaß, in dem der Kläger zeitlebens daran gehindert war und sein wird, ein auch nur annähernd normales Leben zu führen und ständig auf Hilfe und Pflege dritter Personen angewiesen ist und sein wird, erfordert die Zuerkennung eines Schmer­zens­geldes im oberen Bereich der bisher von der Rechtsprechung zuerkannten Beträge.

Dies gilt umso mehr, als die Beweisaufnahme ergeben hat, dass der Kläger weitgehend einsichts- und daher leidensfähig ist, das Ausmaß seiner Behinderung erfassen kann und die Beein­träch­ti­gungen immer wieder erneut als besonders schmerzlich empfinden wird. Bereits jetzt, in einem Alter von 9 Jahren, ist ihm bewusst, dass er nicht einmal dazu in der Lage ist, seinem eigenen Willen entsprechend ein Spielzeug zu ergreifen. Seine körperlich sehr eingeschränkten Kommunikations-, Koordinations- und Entfal­tungs­mög­lich­keiten werden ihn daher mit zunehmendem Alter in zunehmendem Maße die Auswirkungen seiner Behinderung erleben lassen. Ein etwaiger Gewöh­nungs­effekt an die Behinderung ist gegenüber diesen Erfahrungen zu vernachlässigen.

Verstärkt wird diese Einschätzung dadurch, dass laut Sachver­ständigem mit einer Verschlech­terung des Gesund­heits­zu­stands des Klägers zu rechnen sein wird und mit zunehmendem Alter die Pflege­be­dürf­tigkeit zunehmen wird. Dass der Kläger gleichzeitig die volle Tragweite seiner Behinderung in erhöhtem Maße erkennen wird, war schmer­zens­gel­der­höhend zu berücksichtigen.

Die Kammer hält vor diesem Hintergrund insbesondere zusätzlich zu dem zuerkannten Schmer­zens­geld­ka­pi­tal­betrag eine lebenslange Rente in der zugesprochenen Höhe für angemessen. Gerade die regelmäßig wiederkehrenden Zahlungen tragen der Genug­tu­ungs­funktion des Schmer­zens­geldes Rechnung.

Auf das zugesprochene Schmerzensgeld ist der von der Versicherung bereits geleistete Betrag von ca. 127.000 € anzurechnen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Urteils ist nicht damit zu rechnen, dass dieses sofort rechtskräftig wird.

Quelle: Pressemitteilung des LG München I vom 09.03.2005

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