In dem zu Grunde liegenden Fall kam eine damals 80-jährige Frau in einer Straßenbahn beim Anfahren zu Fall. Sie zog sich dabei Verletzungen zu. Sie meinte, der Straßenbahnfahrer hätte sie beim Einsteigen gesehen und daher mit dem Anfahren warten müssen, bis sie hätte Halt finden können. Der Straßenbahnfahrer hätte aufgrund ihrer altersbedingten Gebrechlichkeit Rücksicht nehmen müssen. Sie verklagte daher das Verkehrsunternehmen auf Zahlung von Schadenersatz und Schmerzensgeld. Das Landgericht Berlin wies die Klage mit der Begründung ab, dass der Frau ein überwiegendes Mitverschulden anzulasten gewesen sei. Dagegen richtete sich ihre Berufung.
Das Kammergericht entschied gegen die Frau. Das Landgericht habe zu Recht einen Anspruch auf Schadenersatz verneint. Zwar sei ein Verkehrsunternehmen im Falle einer Verletzung des Köpers oder der Gesundheit eines Menschen beim Betrieb einer Schienenbahn zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet (§ 1 Abs. 1 HPflG). Dies gelte jedoch dann nicht, wenn dem Fahrgast ein erhebliches Mitverschulden angelastet werden kann.
Der Klägerin habe hier ein erhebliches Mitverschulden (§ 4 HPflG) angelastet werden müssen, so das Kammergericht weiter. Demgegenüber habe eine Pflichtverletzung des Straßenbahnführers nicht vorgelegen. Jeder Fahrgast sei verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen (§ 4 Abs. 3 Satz 5 der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen). Es entspreche zudem ständiger Rechtsprechung, dass der Fahrgast selbst dafür verantwortlich ist, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegungen des Verkehrsmittels nicht zu Fall kommt (vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 15.04.2002 - 1 U 75/01 = NVZ 2002, 367). Dieser Verpflichtung sei die Klägerin nicht nachgekommen.
Die mangelnde Vorsicht der Klägerin sei aus Sicht der Richter ursächlich für den Sturz geworden. Stehe nämlich fest, dass ein Fahrgast sich entgegen seiner Verpflichtung nicht festgehalten hat, spreche die Erfahrung des täglichen Lebens (sog. Anscheinsbeweis) dafür, dass der Sturz auf einer Unachtsamkeit des Fahrgastes beruht, wenn nicht besondere Umstände dieser Annahme entgegenstehen (vgl. Kammergericht, Beschl. v. 17.08.2011 - 22 W 50/11). Solche Umstände seien hier hingegen nicht dargelegt worden.
Der Straßenbahnfahrer habe nach Auffassung des Kammergerichts seine Sorgfaltspflichten nicht verletzt. Denn der Fahrer eines Busses oder einer Straßenbahn sei grundsätzlich nicht verpflichtet, sich vor dem Anfahren zu vergewissern, dass ein Fahrgast einen Platz oder Halt im Wagen gefunden hat (vgl. BGH, Urt. v. 16.11.1971 - VI ZR 69/70 - VersR 1972, 152 und Urt. v. 01.12.1992 - VI ZR 27/92). Etwas anderes gelte nur, wenn der Fahrer bei einem Fahrgast eine schwere Behinderung und damit die Gefahr eines Sturzes erkenne. Dies sei hier aber nicht der Fall gewesen. Zwar habe es ich um eine betagte Dame gehandelt. Sie habe jedoch während der Verhandlung nicht den Eindruck hinterlassen, besonders gebrechlich, auffällig gehbehindert oder sturzgefährdet zu sein. Fühle sich ein Fahrgast unsicher, sei diesem zuzumuten, den Fahrer zu bitten, mit dem Anfahren abzuwarten. Das Gericht hielt jedenfalls die Zeitspanne zwischen dem Schließen der Tür und dem Anfahren (etwa 5-8 Sekunden) für ausreichend, damit sich ein älterer Fahrgast sicheren Halt verschaffen kann.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 07.03.2013
Quelle: Kammergericht, ra-online (vt/rb)