Finanzgericht Münster Urteil12.08.2015
Vertrauensschutz kann bei Reverse-Charge-Verfahren Inanspruchnahme des Bauleistenden entgegenstehenFG Münster äußert Zweifel an Vereinbarkeit der umsatzsteuerlichen Übergangsregelung mit europarechtlichen Vorgaben zur Klarheit und Voraussehbarkeit von Rechtsvorschriften
Das Finanzgericht Münster hat in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entschieden, dass bei fehlender Umkehr der Umsatzsteuerschuldnerschaft (Reverse-Charge-Verfahren) einer Inanspruchnahme des Bauleistenden Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegenstehen können.
Die Antragstellerin erbrachte Bauleistungen gegenüber einem Bauträger, der eigene Grundstücke zum Zweck des Verkaufs bebaute. In ihrer Umsatzsteuerfestsetzung für das Streitjahr 2011 gab die Antragstellerin an, umsatzsteuerpflichtige Bauleistungen entsprechend der damaligen Verwaltungsauffassung erbracht zu haben, für die der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer schulde. Im Rahmen einer Umsatzsteuersonderprüfung im Jahr 2015 vertrat das Finanzamt die Auffassung, dass die frühere Erlasslage aufgrund der zwischenzeitlich geänderten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nicht mehr maßgeblich sei (vgl. Bundesfinanzhof, Beschluss v. 30.06.2011 - V R 37/10 -). Gegen den entsprechend geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2011 berief sich die Antragstellerin auf Vertrauensschutz.
FG zweifelt an Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids
Das Finanzgericht Münster äußerte im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids. Nach der einschlägigen abgabenrechtlichen Vertrauensschutzvorschrift (§ 176 Abs. 2 AO) dürfe bei der Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten der Antragstellerin berücksichtigt werden, dass der Umsatzsteuer-Anwendungserlass vom Bundesfinanzhof als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend angesehen werde. Auch die umsatzsteuerliche Übergangsvorschrift, die die Anwendung des § 176 AO in derartigen Fällen ihrem Wortlaut nach ausschließt (§ 27 Abs. 19 Satz 2 UStG), ermöglicht nach Auffassung des Finanzgerichts Münster nicht zwingend eine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung. Es bestünden Zweifel, so das Gericht, ob die Übergangsvorschrift eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung entfalte, weil sie nachträglich in eine bestehende Umsatzsteuerschuld eingreife. Möglicherweise sei die Übergangsregelung außerdem mit den europarechtlichen Vorgaben der Klarheit und Voraussehbarkeit von Rechtsvorschriften unvereinbar.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 01.09.2015
Quelle: Finanzgericht Münster/ra-online