Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil08.11.2012
EGMR: Zurückweisung einer Berufung im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Ausbleiben des Angeklagten verstößt gegen die Menschenrechtskonvention bei Anwesenheit eines zur Vertretung bereiten VerteidigersNichtentscheidung über Berufung stellt unzulässige Entziehung des Rechts auf Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 c) EMRK) dar
Wird eine Berufung im Rahmen eines Strafverfahrens deswegen zurückgewiesen, weil der Angeklagte unentschuldigt fernblieb, so liegt darin ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), wenn ein zur Vertretung bereiter Verteidiger anwesend ist. Durch die Nichtentscheidung über die Berufung wird dem Angeklagten in unzulässiger Weise das Recht auf Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 c) EMRK entzogen. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Februar 2003 wurde ein Angeklagter wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 15 EUR verurteilt. Gegen diese Entscheidung legte der Angeklagte Berufung ein. Zur Berufungsverhandlung erschien er jedoch nicht. Er ließ sich stattdessen von seinem Anwalt vertreten. Das Berufungsgericht verwarf angesichts des nicht entschuldigten Ausbleibens des Angeklagten die Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO. Der Angeklagte hielt dies jedoch für unzulässig und legte Revision ein. Seiner Meinung nach dürfe sich in einem Berufungsverfahren ein Angeklagter von seinem Verteidiger gemäß Art. 6 Abs. 3 c) EMRK vertreten lassen, ohne dass er selbst erscheinen muss. Die Revision blieb jedoch, wie auch eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht, erfolglos. Sowohl das Revisionsgericht als auch das Bundesverfassungsgericht hielten eine Anwesenheit des Angeklagten bei seiner Berufungsverhandlung gemäß § 329 Abs. 1 StPO für erforderlich. Der Angeklagte erhob daraufhin vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Individualbeschwerde. Er rügte eine Verletzung des Art. 6 EMRK.
Gewährleistung des Rechts auf Verteidigung
Der EGMR führte zum Fall zunächst aus, dass im Rahmen eines fairen Strafverfahrens die Anwesenheit des Angeklagten von größter Bedeutung ist. Nur so könne der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen geprüft und mit denen des Opfers und der Zeugen verglichen werden. Dies gelte ebenso für das Berufungsverfahren. Es sei daher gerechtfertigt einer unberechtigten Abwesenheit des Angeklagten entgegenzuwirken. Zugleich sei aber auch das Recht des Angeklagten auf eine angemessene Verteidigung von entscheidender Bedeutung für ein faires Strafverfahren.
Entziehung des Rechts auf Verteidigung begründet Verstoß gegen EMRK
Ein Angeklagter dürfe das Recht auf Verteidigung nicht allein deswegen verlieren, so der EGMR, weil er während der Berufungsverhandlung nicht anwesend ist. Dies sei aber der Fall, wenn die Berufung trotz Anwesenheit eines zur Verteidigung bereiten Rechtsanwalts verworfen wird, nur weil der Angeklagte unentschuldigt ausblieb. Die darin liegende Entziehung des Rechts auf Verteidigung stelle einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 c) EMRK und somit eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK dar.
Schadenersatz von 1.000 EUR
Der EGMR sprach dem Angeklagten aufgrund der Rechtsverletzung eine Entschädigung von 1.000 EUR zu.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 08.08.2014
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, ra-online (vt/rb)