21.11.2024
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Dokument-Nr. 6631

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil03.09.2008

EuGH fordert Grund­rechts­schutz auch für Terror-VerdächtigteEinfrieren der Gelder von Verdächtigen verstößt gegen Eigentumsrecht und Anspruch auf rechtliches Gehör

Der Gerichtshof hebt die Urteile des Gerichts auf und entscheidet, dass die Gemein­schafts­ge­richte für die Prüfung der von der Gemeinschaft erlassenen Maßnahmen, mit denen Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen umgesetzt werden, zuständig sind. In Wahrnehmung dieser Zuständigkeit stellt er fest, dass die Verordnung die Grundrechte verletzt, die Herr Kadi und Al Barakaat unter Berufung auf das Gemein­schaftsrecht geltend machen.

Der saudische Staats­an­ge­hörige Yassin Abdullah Kadi und die in Schweden ansässige Al Barakaat International Foundation sind vom Sankti­o­ns­aus­schuss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen als mit Osama bin Laden, Al-Quaida und den Taliban verbunden bezeichnet worden. Nach einer Reihe von Resolutionen des Sicherheitsrats müssen alle Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, die Gelder und sonstigen finanziellen Vermögenswerte einfrieren, die der direkten oder indirekten Kontrolle dieser Personen oder Organisationen unterstehen.

In der Europäischen Gemeinschaft erließ der Rat zur Umsetzung dieser Resolution eine Verordnung, mit der die Gelder und sonstigen wirtschaft­lichen Ressourcen der in einer Liste im Anhang dieser Verordnung aufgeführten Personen und Organisationen eingefroren werden. Diese Liste wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert, um den Änderungen der vom Sankti­o­ns­aus­schuss, einem Organ des Sicherheitsrats, erstellten konsolidierten Liste Rechnung zu tragen. Die Namen von Herrn Kadi und Al Barakaat wurden am 19. Oktober 2001 der konsolidierten Liste hinzugefügt und anschließend in die Liste der Gemein­schafts­ver­ordnung übernommen.

Herr Kadi und Al Barakaat erhoben vor dem Gericht erster Instanz Klagen auf Nichti­g­er­klärung dieser Verordnung und führten aus, dass der Rat für den Erlass der betreffenden Verordnung nicht zuständig sei und die Verordnung mehrere Grundrechte der Kläger verletze, insbesondere das Recht auf Eigentum und den Anspruch auf rechtliches Gehör. Mit Urteilen vom 21. September 2005 wies das Gericht sämtliche Klagegründe von Herrn Kadi und Al Barakaat zurück und erhielt die Verordnung aufrecht. Dabei entschied das Gericht insbesondere, dass die Gemein­schafts­ge­richte grundsätzlich (mit Ausnahme einiger zwingender Regeln des Völkerrechts, des sogenannten ius cogens) für die Prüfung der Gültigkeit der fraglichen Verordnung nicht zuständig seien, da die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Charta der Vereinten Nationen, eines völker­recht­lichen Abkommens, das Vorrang vor dem Gemein­schaftsrecht habe, den Resolutionen des Sicherheitsrats nachkommen müssten. Herr Kadi und Al Barakaat haben beim Gerichtshof gegen diese Urteile Rechtsmittel eingelegt. Als erstes bestätigt der Gerichtshof, dass der Rat auf der Grundlage der von ihm gewählten Artikel des EG-Vertrags für den Erlass der Verordnung zuständig war. Auch wenn die Begründung des Gerichts einige Fehler enthält, war dessen Schluss­fol­gerung, dass der Rat für den Erlass dieser Verordnung zuständig gewesen sei, nach Ansicht des Gerichtshofs nicht falsch. Der Gerichtshof stellt allerdings fest, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es entschieden hat, dass die Gemein­schafts­ge­richte für die Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verordnung grundsätzlich nicht zuständig seien.

Die Kontrolle der Gültigkeit einer jeden Handlung der Gemeinschaft im Hinblick auf die Grundrechte durch den Gerichtshof ist als Ausdruck einer Verfas­sungs­ga­rantie in einer Rechts­ge­mein­schaft zu betrachten, einer Garantie, die sich aus dem EG-Vertrag als autonomem Rechtssystem ergibt und durch ein völker­recht­liches Abkommen nicht beeinträchtigt werden kann.

Die Recht­mä­ßig­keits­kon­trolle durch den Gemein­schafts­richter bezieht sich auf den Gemein­schafts­rechtsakt, mit dem die betreffende internationale Übereinkunft umgesetzt werden soll, und nicht auf diese Übereinkunft als solche. Ein Urteil eines Gemein­schafts­ge­richts, mit dem festgestellt würde, dass ein Gemein­schafts­rechtsakt zur Umsetzung einer Resolution des Sicherheitsrats gegen eine höherrangige Norm der Gemein­schafts­rechts­ordnung verstößt, würde nicht den völker­recht­lichen Vorrang der betreffenden Resolution in Frage stellen. Folglich müssen die Gemein­schafts­ge­richte eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Gemeinschaft im Hinblick auf die Grundrechte als Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemein­schafts­rechts gewährleisten, und zwar auch in Bezug auf diejenigen Handlungen der Gemeinschaft, die wie die betreffende Verordnung der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats dienen sollen.

Dementsprechend hebt der Gerichtshof die Urteile des Gerichts auf.

Bei seiner anschließenden Entscheidung über die Nichtig­keits­klagen von Herrn Kadi und Al Barakaat gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass angesichts der konkreten Umstände, unter denen die Namen der Rechts­mit­tel­führer in die Liste der vom Einfrieren von Geldern betroffenen Personen und Organisationen aufgenommen worden sind, die Vertei­di­gungs­rechte der Rechts­mit­tel­führer, insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör, sowie das Recht auf effektive gerichtliche Kontrolle offenkundig nicht gewahrt worden sind.

Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle voraussetzt, dass die Gemein­schafts­behörde der betroffenen Person oder Organisation die Gründe, auf denen die betreffende Maßnahme beruht, soweit wie möglich zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Maßnahme beschlossen wird, oder wenigstens so bald wie möglich danach mitteilt, um den betreffenden Adressaten die fristgemäße Wahrnehmung ihres Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz zu ermöglichen.

Der Gerichtshof räumt ein, dass eine im Voraus erfolgende Mitteilung der Gründe die Wirksamkeit der Maßnahmen des Einfrierens von Geldern und wirtschaft­lichen Ressourcen beeinträchtigen könnte, die naturgemäß einen Überra­schungs­effekt benötigen und unverzüglich zur Anwendung kommen müssen. Aus den gleichen Gründen waren die Gemein­schafts­be­hörden auch nicht dazu verpflichtet, die Betroffenen vor der Aufnahme ihrer Namen in die Liste anzuhören. Die betreffende Verordnung sieht jedoch kein Verfahren für die Mitteilung der Umstände, die die Aufnahme der Namen der Betroffenen in die Liste rechtfertigen, gleichzeitig mit der Aufnahme oder im Anschluss daran vor. Der Rat hat weder Herrn Kadi noch Al Barakaat zu irgendeinem Zeitpunkt die ihnen zur Last gelegten Umstände mitgeteilt, die die erstmalige Aufnahme ihrer Namen in die Liste gerechtfertigt haben sollen. Diese Verletzung der Vertei­di­gungs­rechte von Herrn Kadi und Al Barakaat führt außerdem zu einem Verstoß gegen das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz, da sie ihre Rechte auch vor dem Gemein­schafts­richter nicht zufrieden stellend verteidigen konnten.

Der Gerichtshof stellt zudem fest, dass das Einfrieren von Geldern eine ungerecht­fertigte Beschränkung des Eigentumsrechts von Herrn Kadi darstellt.

Nach Ansicht des Gerichtshofs handelt es sich bei den mit der streitigen Verordnung verhängten Restriktionen um Beschränkungen dieses Rechts, die grundsätzlich gerechtfertigt werden könnten. So kann die Bedeutung der Ziele, die mit der Verordnung verfolgt werden, selbst erhebliche negative Konsequenzen für bestimmte Personen rechtfertigen. Zudem können die zuständigen nationalen Behörden Gelder freigeben, die für Grundausgaben (Bezahlung von Mieten, medizinischer Behandlung usw.) benötigt werden.

Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die betreffende Verordnung erlassen worden ist, ohne Herrn Kadi irgendeine Garantie zu geben, dass er sein Anliegen den zuständigen Stellen vortragen kann, obwohl eine solche Garantie im Hinblick auf die umfassende Geltung und effektive Dauer der gegen ihn verhängten Maßnahmen des Einfrierens erforderlich ist, um die Achtung des Rechts auf Eigentums sicherzustellen.

Folglich erklärt der Gerichtshof die Verordnung des Rates für nichtig, soweit mit ihr die Gelder von Herrn Kadi und Al Barakaat eingefroren werden.

Der Gerichtshof erkennt jedoch an, dass eine mit sofortiger Wirkung erfolgende Nichti­g­er­klärung dieser Verordnung die Wirksamkeit der Restriktionen schwer und irreversibel beeinträchtigen könnte, da in dem Zeitraum bis zu ihrer möglichen Ersetzung die betreffende Person bzw. Organisation Maßnahmen treffen könnte, mit denen ein weiteres Einfrieren ihrer Gelder verhindert werden soll. Im Übrigen lässt sich nicht ausschließen, dass sich die Anordnung derartiger Maßnahmen gegenüber Herrn Kadi und Al Barakaat in der Sache gleichwohl als gerechtfertigt erweisen kann. Angesichts dieser Umstände erhält der Gerichtshof die Wirkungen der Verordnung für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten ab heute aufrecht, um es dem Rat zu ermöglichen, die festgestellten Verstöße zu heilen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 60/08 des EuGH vom 03.09.2008

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