21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil05.06.2018

Aufent­halts­freiheit von Unionsbürgern gilt auch für Ehegatten gleichen Geschlechts aus DrittstaatGleich­geschlecht­lichem Ehegatten darf abgeleitetes Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet nicht verweigert werden

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass der Begriff "Ehegatte" im Sinne der unions­recht­lichen Bestimmungen über die Aufent­halts­freiheit von Unionsbürgern und ihren Familien­an­ge­hörigen auch Ehegatten gleichen Geschlechts umfasst. Den Mitgliedstaaten steht es zwar frei, die Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts zu erlauben oder nicht zu erlauben, jedoch dürfen sie die Aufent­halts­freiheit eines Unionsbürgers nicht dadurch beeinträchtigen, dass sie seinem gleich­geschlecht­lichen Ehegatten, der Staats­an­ge­höriger eines Nicht-EU-Landes ist, ein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet verweigern.

Herr Relu Adrian Coman, der rumänischer Staats­an­ge­höriger ist, und Herr Robert Clabourn Hamilton, der amerikanischer Staats­an­ge­höriger ist, lebten in den Vereinigten Staaten vier Jahre zusammen, bevor sie 2010 in Brüssel heirateten. Im Dezember 2012 wandten sich Herr Coman und sein Ehemann an die rumänischen Behörden mit der Bitte um Mitteilung, nach welchem Verfahren und unter welchen Voraussetzungen Herr Hamilton als Familien­an­ge­höriger von Herrn Coman das Recht erlangen könne, sich für eine Dauer von mehr als drei Monaten rechtmäßig in Rumänien aufzuhalten. Diese Anfrage beruhte auf der Richtlinie über die Ausübung der Freizügigkeit*, die es dem Ehegatten eines Unionsbürgers, der von seinem Freizü­gig­keitsrecht Gebrauch gemacht hat, erlaubt, seinem Ehegatten in den Mitgliedstaat nachzuziehen, in dem dieser sich aufhält.

Behörden gewähren Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigem nur Recht zum Aufenthalt für drei Monate

Auf diese Anfrage teilten die rumänischen Behörden Herrn Coman und Herrn Hamilton mit, dass Letzterer nur ein Recht zum Aufenthalt für drei Monate habe, insbesondere weil er in Rumänien nicht als "Ehegatte" eines Unionsbürgers angesehen werden könne, da dieser Mitgliedstaat Ehen zwischen Personen gleichen Geschlechts ("Homo-Ehen") nicht anerkenne.

Ehepaar erhebt Klage wegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung

Daraufhin erhoben Herr Coman und Herr Hamilton vor den rumänischen Gerichten Klage auf Feststellung einer Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung im Hinblick auf die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit in der Union. Die im Rahmen dieses Rechtsstreits mit einem Einwand der Verfas­sungs­wid­rigkeit befasste Curtea Constitutionala (Verfas­sungs­ge­richtshof, Rumänien) möchte vom Gerichtshof wissen, ob Herr Hamilton unter den Begriff "Ehegatte" eines Unionsbürgers, der von seinem Freizü­gig­keitsrecht Gebrauch gemacht hat, fällt und ihm daher ein Recht auf Daueraufenthalt in Rumänien zu gewähren ist.

Richtlinie begründet kein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt zugunsten eines Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen

In seinem Urteil erinnert der Gerichtshof zunächst an seine Rechtsprechung, wonach die Richtlinie über die Ausübung der Freizügigkeit allein die Voraussetzungen regelt, unter denen ein Unionsbürger in andere Mitgliedstaaten als in den seiner eigenen Staats­an­ge­hö­rigkeit einreisen und sich dort aufhalten darf, und auf sie kein abgeleitetes Recht von Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen, die Familien­an­ge­hörige eines Unionsbürgers sind, zum Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit der Unionsbürger besitzt, gestützt werden kann. Demnach kann die Richtlinie zugunsten von Herrn Hamilton kein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit Herr Coman besitzt, d.h. Rumänien, begründen.

Aufent­haltsrecht kann durch Vertrag über Arbeitsweise der Europäischen Union erreicht werden

Allerdings hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Nicht-EU-Staats­an­ge­hörige, die Familien­an­ge­hörige eines Unionsbürgers sind und aus den Bestimmungen der Richtlinie kein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit dieser Unionsbürger besitzt, herleiten können, in bestimmten Fällen auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Anerkennung eines solchen Rechts erreichen können (diese Bestimmung verleiht den Unionsbürgern unmittelbar das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten).

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Voraussetzungen für die Gewährung dieses abgeleiteten Aufent­halts­rechts nicht strenger sein dürfen als diejenigen, die die Richtlinie für einen Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen vorsieht, der Familien­an­ge­höriger eines Unionsbürgers ist, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit er besitzt.

Begriff "Ehegatte" ist geschlechts­neutral

Der Gerichtshof stellt fest, dass im Rahmen der Richtlinie über die Ausübung der Freizügigkeit der Begriff "Ehegatte" - der eine Person bezeichnet, die mit einer anderen durch den Bund der Ehe vereint ist - geschlechts­neutral ist und somit den gleich­ge­schlecht­lichen Ehegatten eines Unionsbürgers einschließen kann. Allerdings fällt das Perso­nen­standsrecht, zu dem die Regelungen über die Ehe gehören, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, und das Unionsrecht lässt diese Zuständigkeit unberührt. Den Mitgliedstaaten steht es daher frei, für Personen gleichen Geschlechts die Ehe vorzusehen oder nicht vorzusehen. Zudem achtet die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, die in ihren grundlegenden politischen und verfas­sungs­mäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt.

Weigerung der Anerkennung einer rechtmäßig geschlossenen Ehe würde abgeleitetes Aufent­haltsrecht beschränken

Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass die Weigerung eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig geschlossene Ehe eines Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen mit einem gleich­ge­schlecht­lichen Unionsbürger allein zum Zweck der Gewährung eines abgeleiteten Aufent­halts­rechts zugunsten dieses Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen anzuerkennen, geeignet ist, die Ausübung des Rechts dieses Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu beschränken. Die Zulässigkeit einer solchen Weigerung hätte zur Folge, dass das Freizü­gig­keitsrecht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgestaltet wäre, je nachdem, ob die nationalen Rechts­vor­schriften die Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts vorsehen oder nicht.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die Perso­nen­frei­zü­gigkeit zwar Beschränkungen unterliegen, die von der Staats­an­ge­hö­rigkeit der Betroffenen unabhängig sind, sofern sie auf objektiven Erwägungen des Allgemeinwohls beruhen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck stehen.

Pflicht zur Anerkennung allein zur Gewährung des Aufent­halts­rechts widerspricht nicht öffentlicher Ordnung

Insoweit ist aber die öffentliche Ordnung, die im vorliegenden Fall als Rechtfertigung für die Beschränkung der Freizügigkeit angeführt wird, eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Nachprüfung durch die Unionsorgane bestimmt werden darf. Die Pflicht eines Mitgliedstaats, eine zwischen Personen gleichen Geschlechts in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht geschlossene Ehe allein zum Zweck der Gewährung eines abgeleiteten Aufent­halts­rechts zugunsten eines Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen anzuerkennen, beeinträchtigt nicht das Institut der Ehe im erstgenannten Mitgliedstaat. Insbesondere verpflichtet sie diesen Mitgliedstaat nicht dazu, in seinem nationalen Recht das Institut der Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts vorzusehen. Somit widerspricht eine solche Pflicht zur Anerkennung allein zum Zweck der Gewährung eines abgeleiteten Aufent­halts­rechts zugunsten eines Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen weder der nationalen Identität noch der öffentlichen Ordnung des betreffenden Mitgliedstaats.

Auch von homosexuellen Paaren geführte Beziehungen fallen unter Begriffe "Privatleben" und "Familienleben"

Schließlich führt der Gerichtshof aus, dass eine nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Perso­nen­frei­zü­gigkeit zu beschränken, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie mit den durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Grundrechten vereinbar ist. Hinsichtlich des in Art. 7 der Charta verbürgten Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens weist der Gerichtshof darauf hin, dass auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die von einem homosexuellen Paar geführte Beziehung genauso unter die Begriffe "Privatleben" und "Familienleben" fallen kann wie die Beziehung eines in derselben Situation befindlichen verschie­den­ge­schlecht­lichen Paares.

Erläuterungen

Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35, und im ABl. 2007, L 204, S. 28).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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