In Fällen von Misshandlungen im familiären Bereich müssen die spanischen Gerichte strafrechtliche Sanktionen verhängen und in allen Fällen zwingend gegen den Täter als Nebenstrafe ein Verbot aussprechen, sich seinem Opfer zu nähern. Dieses Näherungsverbot von einer bestimmten Mindestdauer dient dem Schutz des Opfers. Ein Verstoß dagegen ist als solcher eine strafbare Handlung.
In den vorliegenden Fällen wurden Herr Gueye und Herr Salmerón Sánchez wegen Misshandlung ihrer jeweiligen Lebensgefährtin verurteilt. Eine der verhängten Strafen untersagte es ihnen für 17 bzw. 16 Monate, sich ihren Opfern zu nähern oder mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Kurz nach ihrer Verurteilung nahmen Herr Gueye und Herr Salmerón Sánchez die Lebensgemeinschaft mit ihrer jeweiligen Lebensgefährtin auf deren Initiative wieder auf. Wegen Verstoßes gegen das gegen sie verhängte Näherungsverbot wurden sie festgenommen und verurteilt. Beide legten gegen ihre Verurteilung Berufung bei der Audiencia Provincial de Tarragona (Provinzgericht Tarragona) (Spanien) ein. Unterstützt durch ihre Lebensgefährtinnen machten die beiden Verurteilten geltend, dass die Wiederaufnahme des Zusammenlebens, dem ihrer Partnerinnen aus freien Stücken zugestimmt hätten, nicht den Straftatbestand der Missachtung des Näherungsverbots erfülle.
In diesem Zusammenhang möchte das Provinzgericht Tarragona im Wesentlichen wissen, ob der Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren* einer nationalen Regelung entgegensteht, die dem Strafrichter in Fällen von Misshandlungen im familiären Bereich zwingend vorschreibt, gegen den Täter der Gewalttaten ein Näherungsverbot anzuordnen, selbst wenn sich das Opfer gegen die Verhängung einer derartigen Strafe ausspricht und seine Beziehung zum Täter wieder aufnehmen möchte.
In seinem Urteil vom heutigen Tag stellt der Gerichtshof klar, dass der Rahmenbeschluss keine Bestimmung über Art und Höhe der Strafen enthält, die die Mitgliedstaaten in ihren Rechtsvorschriften zur Ahndung von Straftaten vorsehen müssen. Nach dem Rahmenbeschluss soll gewährleistet werden, dass sich das Opfer tatsächlich angemessen am Strafprozess beteiligen kann, und hierzu werden ihm bestimmte Verfahrensrechte eingeräumt (u. a. das Recht, gehört zu werden und Beweismaterial zu liefern). In Anbetracht dieses Ziels schließt der Rahmenbeschluss nicht aus, dass ein obligatorisches Näherungsverbot wie das im vorliegenden Fall in Rede stehende auch entgegen der vom Opfer vertretenen Ansicht angeordnet werden kann.
Sodann prüft der Gerichtshof die Tragweite des durch den Rahmenbeschluss anerkannten Rechts des Opfers auf Anhörung und dessen Auswirkungen auf die Strafen, die gegen die Täter von Straftaten zu verhängen sind.
Hierzu führt er aus, dass das Recht auf Anhörung dem Opfer - neben der Möglichkeit, objektiv den Tathergang zu beschreiben - zwar auch Gelegenheit geben soll, seinen Standpunkt vorzutragen, dieses Verfahrensrecht ihm jedoch nicht das Recht verleiht, über die Art oder Höhe der Strafen, die gegen den Täter nach den Vorschriften des innerstaatlichen Strafrechts zu verhängen sind, zu entscheiden. Der strafrechtliche Schutz gegen häusliche Gewalt, den ein Mitgliedstaat in Ausübung seines Strafanspruchs sicherstellt, soll nicht nur die Interessen des Opfers, wie sie sich aus dessen Sicht darstellen, sondern auch andere, allgemeinere Interessen der Gesellschaft schützen. Daher verbietet das Recht des Opfers auf Anhörung, das durch den Rahmenbeschluss anerkannt wird, dem nationalen Gesetzgeber - insbesondere dann, wenn neben den Interessen des Opfers noch andere Interessen in Betracht gezogen werden müssen - nicht, obligatorische Strafen von einer bestimmten Mindestdauer vorzusehen.
Folglich verbietet es der Rahmenbeschluss nicht, ein nach dem Strafrecht eines Mitgliedstaats zwingend vorgeschriebenes Näherungsverbot von einer bestimmten Mindestdauer gegen den Täter von im familiären Bereich begangenen Gewalttaten anzuordnen, selbst wenn das Opfer dieser Gewalttaten sich gegen die Verhängung einer derartigen Strafe ausspricht.
Schließlich gestattet der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten in Anbetracht der spezifischen Merkmale der Straftaten im familiären Bereich, die Schlichtung in sämtlichen Strafverfahren, die sich auf derartige Straftaten beziehen, auszuschließen.
Erläuterungen
* Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1).
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 16.09.2011
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online