21.11.2024
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Dokument-Nr. 5307

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil11.12.2007

EuGH: Streikmaßnahmen zur Verhinderung von Stand­ort­ver­le­gungen können zulässig sein

Kollektive Maßnahmen, die darauf abzielen, ein ausländisches Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrags mit einer Gewerkschaft zu veranlassen, der geeignet ist, das Unternehmen davon abzubringen, von seiner Nieder­las­sungs­freiheit Gebrauch zu machen, beschränken diese Freiheit. Diese Beschränkungen können durch den Arbeit­neh­mer­schutz gerechtfertigt sein, vorausgesetzt, es ist erwiesen, dass sie geeignet sind, die Erreichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und dass sie nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgehen.

Die International Transport Workers' Federation (Internationale Trans­por­t­a­r­beiter-Föderation, im Folgenden: ITF) ist eine internationale Föderation, in der 600 Gewerkschaften für Arbeiter, die im Transportsektor beschäftigt sind, aus 140 Staaten zusam­men­ge­schlossen sind und deren Sitz sich in London befindet. Eines der Hauptanliegen der ITF ist ihr Kampf gegen die Billigflaggen. In diesem Rahmen sind unabhängig davon, unter welcher Flagge ein Schiff registriert ist, zur Verbesserung der Arbeits­be­din­gungen der Schiffs­be­sat­zungen nur die Gewerkschaften im Land des wirtschaft­lichen Eigentums des Schiffes berechtigt, Kollek­tiv­ver­ein­ba­rungen abzuschließen. Viking Line, ein finnisches Fährunternehmen, ist Eigentümerin der Rosella, einer Fähre, die unter finnischer Flagge auf dem Seeweg zwischen Tallinn und Helsinki verkehrt. Die Mitglieder ihrer Besatzung sind gewerk­schaftlich in der Finnish Seamen's Union (FSU) organisiert, die der ITF angeschlossen ist.

Im Oktober 2003 teilte Viking Line der FSU mit, dass sie beabsichtige, die Verluste erwirt­schaftende Rosella umzuflaggen und in Estland, wo Viking Line eine Tochter­ge­sell­schaft hatte, registrieren zu lassen, um eine estnische Besatzung auf der Grundlage eines niedrigeren Lohnniveaus als des in Finnland angewandten beschäftigen zu können; so sollte die Wettbe­wer­bs­fä­higkeit mit anderen Fähren auf der gleichen Linie erreicht werden. Im November 2003 sandte die ITF auf Ersuchen der FSU allen ihren Mitgliedern ein Rundschreiben, in dem sie diesen unter Androhung von Sanktionen für den Fall der Zuwiderhandlung aufgab, mit Viking Line keine Verhandlungen zu führen. Infolgedessen sahen sich die estnischen Gewerkschaften daran gehindert, mit Viking Line Verhandlungen aufzunehmen.

Gleichzeitig machte die FSU die Erneuerung der Vereinbarung über die Besatzung von Bedingungen abhängig und kündigte ihre Streikabsicht an, wobei sie zum einen eine Aufstockung der Besatzung an Bord der Rosella und zum anderen den Abschluss eines Tarifvertrags verlangte, der vorsehen sollte, dass Viking Line im Fall der Umflaggung weiterhin das finnische Arbeitsrecht beachtet und die Besatzung nicht entlässt.

Im August 2004, nach dem Beitritt Estlands zur Europäischen Union, wandte sich Viking Line, die entschlossen war, das Verluste erwirt­schaftende Schiff unter estnischer Flagge registrieren zu lassen, an die Gerichte des Vereinigten Königreichs, wo die ITF ihren Sitz hatte. Viking Line beantragte, der ITF aufzugeben, das Rundschreiben zurückzuziehen, und der FSU aufzugeben, ihre Nieder­las­sungs­freiheit hinsichtlich der Umflaggung der Rosella nicht zu beeinträchtigen. Der Court of Appeal, bei dem der Rechtsstreit nach der von der FSU und der ITF eingelegten Berufung anhängig ist, hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eine Reihe von Fragen nach der Anwendung der Bestimmungen des Vertrags über die Nieder­las­sungs­freiheit und danach zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt, ob die Maßnahmen der FSU und der ITF eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Freizügigkeit darstellten.

Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Vertrags­be­stim­mungen über die Nieder­las­sungs­freiheit auf eine kollektive Maßnahme Anwendung finden, die von einer Gewerkschaft oder einem Gewerk­schafts­verband gegen ein Unternehmen zu dem Zweck betrieben wird, dieses Unternehmen dazu zu veranlassen, einen Tarifvertrag abzuschließen, dessen Inhalt geeignet ist, das Unternehmen davon abzubringen, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen.

Der Gerichtshof erkennt an, dass im Kontext einer Vereinbarung, die die abhängige Erwer­b­s­tä­tigkeit kollektiv regeln soll, die Bestimmungen über die Nieder­las­sungs­freiheit einem privaten Unternehmen Rechte verleihen, auf die es sich gegenüber einer Gewerkschaft oder einem Gewerk­schafts­verband berufen kann, die die ihnen aufgrund der Koali­ti­o­ns­freiheit zustehende autonome Befugnis ausüben, mit den Arbeitgebern und berufs­s­tän­dischen Organisationen über die Arbeits- und Vergü­tungs­be­din­gungen der Arbeitnehmer zu verhandeln. Sodann erinnert der Gerichtshof daran, dass die für die Registrierung von Schiffen aufgestellten Voraussetzungen nicht die Nieder­las­sungs­freiheit behindern dürfen. Zum einen hat eine kollektive Maßnahme wie die von der FSU beabsichtigte zur Folge, es für Viking Line weniger attraktiv und sogar zwecklos zu machen, von ihrer Nieder­las­sungs­freiheit Gebrauch zu machen, da die kollektive Maßnahme das Unternehmen und seine estnische Tochter­ge­sell­schaft daran hindert, im Aufnah­me­mit­gliedstaat in den Genuss der gleichen Behandlung wie die anderen in diesem Staat nieder­ge­lassenen Wirtschafts­teil­nehmer zu kommen. Zum anderen ist davon auszugehen, dass eine kollektive Maßnahme, die zu dem Zweck durchgeführt wird, die von der ITF betriebene Politik des Kampfes gegen Billigflaggen umzusetzen, die hauptsächlich darauf abzielt, die Reeder daran zu hindern, ihre Schiffe in einem anderen Staat als dem registrieren zu lassen, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit die wirtschaft­lichen Eigentümer dieser Schiffe besitzen, zumindest geeignet ist, die Ausübung der Nieder­las­sungs­freiheit durch Viking Line zu beschränken.

Folglich sind derartige Maßnahmen Beschränkungen der Nieder­las­sungs­freiheit. Diese Beschränkungen können nur zulässig sein, wenn mit ihnen ein legitimes Ziel wie etwa der Arbeit­neh­mer­schutz verfolgt wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Ziele, die die FSU und die ITF mit der von ihnen betriebenen kollektiven Maßnahme verfolgten, dem Schutz der Arbeitnehmer galten.

Was insoweit die von der FSU durchgeführte kollektive Maßnahme angeht, konnte zwar diese Maßnahme zum Schutz der Arbeitsplätze und der Arbeits­be­din­gungen der Gewerk­schafts­mit­glieder, die vom Umflaggen der Rosella betroffen sein können, auf den ersten Blick mit guten Gründen als dem Ziel des Arbeit­neh­mer­schutzes dienend angesehen werden, doch ließe sich diese Einstufung nicht aufrecht­er­halten, wenn erwiesen wäre, dass die fraglichen Arbeitsplätze oder Arbeits­be­din­gungen nicht gefährdet oder ernstlich bedroht waren. Sollte sich herausstellen, dass die fraglichen Arbeitsplätze oder Arbeits­be­din­gungen tatsächlich gefährdet oder bedroht sind, ist weiter zu prüfen, ob die von dieser Gewerkschaft betriebene kollektive Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und ob sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

Hierbei erinnert der Gerichtshof daran, dass es feststeht, dass kollektive Maßnahmen sowie Tarif­ver­hand­lungen und Tarifverträge unter den besonderen Umständen einer Rechtssache eines der Hauptmittel der Gewerkschaften zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder sein können. In Bezug auf die Frage, ob die im Ausgangs­ver­fahren in Rede stehende kollektive Maßnahme nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgeht, obliegt es dem vorlegenden Gericht, insbesondere zu prüfen, ob zum einen die FSU nach den nationalen Rechts­vor­schriften und dem für diese Maßnahme geltenden Tarifrecht nicht über andere, die Nieder­las­sungs­freiheit weniger beschränkende Mittel verfügte, um zu einem Abschluss der Tarif­ver­hand­lungen mit Viking Line zu gelangen, und ob zum anderen die FSU diese Mittel vor Einleitung einer derartigen Maßnahme ausgeschöpft hatte.

In Bezug auf die kollektiven Maßnahmen zur Gewährleistung der Umsetzung der ITF-Politik betont der Gerichtshof, dass sich die Beschränkungen der Nieder­las­sungs­freiheit, die sich aus derartigen Maßnahmen ergeben, objektiv nicht rechtfertigen lassen, soweit diese Politik darauf hinausläuft, die Reeder daran zu hindern, ihre Schiffe in einem anderen Staat als dem registrieren zu lassen, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit die wirtschaft­lichen Eigentümer dieser Schiffe besitzen. Allerdings ist festzustellen, dass die genannte Politik auch das Ziel des Schutzes und der Verbesserung der Arbeits­be­din­gungen der Seeleute verfolgt.

Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die ITF im Rahmen ihrer Politik des Kampfes gegen Billigflaggen, wenn sie von einem ihrer Mitglieder darum ersucht wird, gehalten ist, gegen den wirtschaft­lichen Eigentümer eines Schiffes, das in einem anderen Staat als dem registriert ist, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit dieser Eigentümer besitzt, eine Solida­ri­täts­maßnahme unabhängig von der Frage einzuleiten, ob die Ausübung der Nieder­las­sungs­freiheit durch diesen Eigentümer schädliche Auswirkungen auf die Arbeitsplätze oder die Arbeits­be­din­gungen seiner Arbeitnehmer haben kann. Somit kommt die Politik, die darin besteht, das Recht auf Tarif­ver­hand­lungen den Gewerkschaften des Staats, dessen Staats­an­ge­höriger der wirtschaftliche Eigentümer eines Schiffes ist, vorzubehalten, auch dann zur Anwendung, wenn das Schiff in einem Staat registriert ist, der den Arbeitnehmern einen höheren sozialen Schutz als denjenigen gewährleistet, in dessen Genuss sie in dem erstgenannten Staat kämen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 88/07 des EuGH vom 11.12.2007

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