24.11.2024
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Sie sehen eine Geldbörse mit einer Gesundheitskarte von einer deutschen Krankenversicherung.

Dokument-Nr. 2393

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil16.05.2006

Gesund­heits­dienst muss Behandlung im Ausland bezahlen, wenn diese zeitnah notwendig ist

Der NHS (der britische National Health Service) kann einem Patienten die Genehmigung für eine Behandlung im Ausland nur dann unter Berufung auf das Bestehen einer Wartezeit für eine Kranken­h­aus­be­handlung im Wohnstaat versagen, wenn er nachweist, dass dieser Zeitraum nicht den in Anbetracht des Gesund­heits­zu­stands und des klinischen Bedarfs des Betroffenen medizinisch vertretbaren zeitlichen Rahmen überschreitet.

Nach dem Gemein­schaftsrecht kann mit dem Vordruck E 112 die Genehmigung für eine Behandlung im Ausland beantragt werden. Diese Genehmigung darf nicht versagt werden, wenn die betreffende Behandlung in dem Mitgliedstaat, in dem der Patient seinen Wohnsitz hat, normalerweise verfügbar ist, dort aber im konkreten Fall nicht rechtzeitig erbracht werden kann. Die Krankenkasse ist dann verpflichtet, dem Patienten die Behand­lungs­kosten zu erstatten.

Frau Watts, die an Hüftarthritis litt, beantragte beim Bedford PCT (Bedford Primary Care Trust, Trust für die Grundversorgung in Bedford) die Genehmigung für eine Operation im Ausland unter Verwendung des Vordrucks E 112. Im Rahmen der Bearbeitung des Antrags wurde sie im Oktober 2002 von einem Facharzt untersucht, der sie als "Routinefall" einstufte, was eine Wartezeit von einem Jahr bis zu einer Operation bedeutet hätte. Der Bedford PCT lehnte es ab, Frau Watts einen Vordruck E 112 auszustellen, weil die Patientin "innerhalb der Zielvorgaben der Regierung für den NHS" und damit "rechtzeitig" am Wohnort behandelt werden könne. Frau Watts erhob beim High Court of Justice eine Anfech­tungsklage gegen die ablehnende Entscheidung.

Wegen einer Verschlech­terung ihres Gesund­heits­zu­stands wurde Frau Watts im Januar 2003 erneut untersucht, und es wurde eine Operation in drei bis vier Monaten vorgesehen. Der Bedford PCT lehnte erneut die Ausstellung eines Vordrucks E 112 ab. Ungeachtet dessen ließ sich Frau Watts im März 2003 in Frankreich ein künstliches Hüftgelenk einsetzen; die Kosten in Höhe von 3 900 GPB beglich sie selbst. Sie betrieb deshalb das Verfahren vor dem High Court of Justice weiter und beantragte außerdem die Erstattung der in Frankreich entstandenen Behand­lungs­kosten. Der High Court of Justice wies den Antrag mit der Begründung zurück, dass bei Frau Watts das Merkmal "nicht rechtzeitig" entfallen sei, nachdem ihr Fall Ende Januar 2003 noch einmal geprüft worden sei. Frau Watts und der Secretary of State for Health legten beim Court of Appeal Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein. Der Court of Appeal legte daraufhin dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen nach der Bedeutung der Verordnung Nr. 1408/71 und der Vertrags­be­stim­mungen über den freien Dienst­leis­tungs­verkehr vor.

Bedeutung der Verordnung Nr. 1408/71

Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass im Rahmen der Verordnung Nr. 1408/71 der zuständige Träger die für die Übernahme der Kosten einer Behandlung im Ausland notwendige vorherige Genehmigung nur dann erteilt, wenn der Patient die Behandlung nicht in einem Zeitraum erhalten kann, der für diese Behandlung in dem Staat, in dem er seinen Wohnsitz hat, normalerweise erforderlich ist.

Er entscheidet, dass der zuständige Träger die Genehmigung nur dann unter Berufung auf das Bestehen einer Wartezeit versagen darf, wenn er nachweist, dass der Zeitraum, der sich aus den Zielen der Planung und der Verwaltung des Kranken­hau­s­an­gebots ergibt, nicht den zeitlichen Rahmen überschreitet, der unter Berück­sich­tigung einer objektiven medizinischen Beurteilung des klinischen Bedarfs des Betroffenen im Hinblick auf seinen Gesund­heits­zustand, seine Vorgeschichte, die voraus­sichtliche Entwicklung seiner Krankheit, das Ausmaß seiner Schmerzen und/oder die Art seiner Behinderung zum Zeitpunkt der Beantragung der Genehmigung vertretbar ist.

Außerdem muss die Festlegung von Wartezeiten auf eine flexible und dynamische Weise erfolgen, die es erlaubt, den dem Betroffenen ursprünglich mitgeteilten Zeitraum zu überprüfen, falls sich sein Gesund­heits­zustand nach einem ersten Geneh­mi­gungs­antrag verschlechtert.

Im Fall des Ausgangs­ver­fahrens ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Wartezeit, auf die sich die zuständige NHS-Einrichtung berufen hat, in Anbetracht des individuellen Zustands und des individuellen klinischen Bedarfs der Betroffenen den medizinisch vertretbaren zeitlichen Rahmen überschritten hat.

Bedeutung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs

Der Gerichtshof führt aus, dass ein Fall wie der des Ausgangs­ver­fahrens, in dem eine Person, deren Gesund­heits­zustand eine Kranken­h­aus­be­handlung erforderlich macht, sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt und dort gegen Entgelt die fragliche Behandlung erhält, unabhängig von der Funktionsweise des nationalen Systems, auf dessen Leistungen diese Person Anspruch hat und bei dem später die Übernahme der Kosten der betreffenden Behandlung beantragt wird, in den Anwen­dungs­bereich der Bestimmungen über den freien Dienst­leis­tungs­verkehr fällt.

Weiter stellt er fest, dass das System der vorherigen Genehmigung, der die Übernahme der Kosten von in einem anderen Mitgliedstaat verfügbaren Kranken­h­aus­be­hand­lungen durch den NHS unterliegt, die betroffenen Patienten davon abschreckt oder sogar daran hindert, sich an Erbringer von Leistungen der Kranken­haus­ver­sorgung in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden, und sowohl für diese Patienten als auch für die Leistungs­er­bringer eine Behinderung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs darstellt.

Eine derartige Beschränkung kann jedoch nach Ansicht des Gerichtshofes mit zwingenden Gründen gerechtfertigt werden. Um zu gewährleisten, dass eine qualitativ hochwertige Kranken­haus­ver­sorgung ständig in ausreichendem Maß zugänglich ist, und um dazu beitragen, die Kosten zu beherrschen und jede Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen zu verhindern, erweist sich das Erfordernis, wonach die Kostenübernahme für eine in einem anderen Mitgliedstaat beabsichtigte Kranken­h­aus­be­handlung durch das nationale System von einer vorherigen Genehmigung abhängig ist, als eine sowohl notwendige als auch angemessene Maßnahme.

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer derartigen Genehmigung müssen jedoch nach Maßgabe der erwähnten zwingenden Gründe gerechtfertigt sein und dem Erfordernis der Verhält­nis­mä­ßigkeit genügen. Die den NHS betreffende Regelung legt jedoch nicht die Kriterien für die Erteilung oder Versagung der vorherigen Genehmigung fest, die für die Übernahme der Kosten von Behandlungen in einem Krankenhaus in einem anderen Mitgliedstaat erforderlich ist. Sie setzt damit dem Ermessen der insoweit zuständigen nationalen Stellen keine Grenzen. Dieses Fehlen einer rechtlichen Eingrenzung erschwert zudem die gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen, mit denen die Genehmigung versagt wird.

Der Gerichtshof entscheidet insoweit, dass, wenn sich herausstellt, dass der sich aus Wartelisten ergebende Zeitraum im Einzelfall den zeitlichen Rahmen überschreitet, der unter Berück­sich­tigung einer objektiven medizinischen Beurteilung sämtlicher Umstände, die den Zustand und den klinischen Bedarf des Betroffenen kennzeichnen, vertretbar ist, der zuständige Träger die Genehmigung nicht unter Berufung auf die Existenz dieser Wartelisten, auf eine Beein­träch­tigung der üblichen Priori­tä­tenfolge nach Maßgabe der jeweiligen Dringlichkeit der zu behandelnden Fälle, auf die Kostenfreiheit der Kranken­h­aus­be­hand­lungen, auf die Verpflichtung, für die Übernahme der Kosten einer in einem anderen Mitgliedstaat beabsichtigten Behandlung besondere finanzielle Mittel vorzusehen, und/oder auf einen Vergleich der Kosten dieser Behandlung und der Kosten einer gleichwertigen Behandlung im Wohnmit­gliedstaat versagen kann.

Die verant­wort­lichen Stellen eines nationalen Gesund­heits­dienstes wie des NHS müssen folglich Mechanismen für die Übernahme der Kosten von Kranken­h­aus­be­hand­lungen vorsehen, die in einem anderen Mitgliedstaat Patienten erbracht werden, denen der betreffende Dienst die erforderliche Behandlung nicht innerhalb eines medizinisch vertretbaren zeitlichen Rahmens erbringen kann.

Erstat­tungs­mo­da­litäten

Der Gerichtshof entscheidet, dass ein Patient, dem eine Kranken­h­aus­be­handlung in einem anderen Mitgliedstaat (Aufent­haltsstaat) genehmigt wurde oder dem die Genehmigung mit einem unbegründeten Bescheid versagt wurde, Anspruch auf Übernahme der Behand­lungs­kosten durch den zuständigen Träger nach den Rechts­vor­schriften des Aufent­halts­staats hat, als ob er in diesem Staat versichert wäre.

Werden die Kosten nicht vollständig übernommen, so impliziert das Gebot, den Patienten in die Lage zu versetzen, in der er sich befunden hätte, wenn der nationale Gesund­heits­dienst, auf dessen Leistungen er Anspruch hat, ihm innerhalb eines medizinisch vertretbaren zeitlichen Rahmens kostenfrei eine der Behandlung im Aufent­halts­mit­gliedstaat gleichwertige Behandlung hätte erbringen können, dass der zuständige Träger verpflichtet ist, sich zu Gunsten des Betroffenen ergänzend in Höhe der Differenz zwischen dem Betrag, der den Kosten dieser gleichwertigen Behandlung im Wohnmit­gliedstaat entspricht, nach oben begrenzt durch den für die Behandlung im Aufent­haltsstaat in Rechnung gestellten Betrag, und dem Betrag der Beteiligung des Trägers des Aufent­halts­staats, der sich aus der Anwendung der Rechts­vor­schriften dieses Staates ergibt, zu beteiligen, wenn der erste Betrag höher ist als der zweite. Sind dagegen die im Aufent­haltsstaat in Rechnung gestellten Kosten höher als die Kosten einer gleichwertigen Behandlung im Wohnstaat, so muss der zuständige Träger die Differenz zwischen den Kosten der Kranken­h­aus­be­handlung in den beiden Mitgliedstaaten nur in Höhe der Kosten der gleichwertigen Behandlung im Wohnstaat decken.

Die Reise- und Unter­brin­gungs­kosten werden, da sich die Verpflichtung des zuständigen Trägers ausschließlich auf die Kosten bezieht, die mit der Gesund­heits­ver­sorgung verbunden sind, die der Patient im Aufent­halts­mit­gliedstaat erhalten hat, nur insoweit übernommen, als die Rechts­vor­schriften des Wohnmit­glied­staats dem nationalen System eine entsprechende Übernah­me­pflicht im Rahmen einer in einer örtlichen Einrichtung dieses Systems erbrachten Behandlung auferlegen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 42/06 des EuGH vom 16.05.2006

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