21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil03.04.2008

EuGH: Tarifbindung bei öffentlichen Aufträgen ist nicht mit EG-Recht vereinbarBeschränkung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs nicht durch Schutz des Arbeitnehmers gerechtfertigt

Bund, Länder und Gemeinden dürfen ihre Aufträge nicht an die Einhaltung des örtlichen Tariflohns koppeln. Das geht aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs hervor. Nach der EG-Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern kann es unzulässig sein, die Vergabe eines öffentlichen Auftrags von der Verpflichtung abhängig zu machen, das am Ausführungsort tarif­ver­traglich vorgesehene Entgelt zu zahlen.

Ein Lohnsatz, der in einem nicht für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag in einem Mitgliedstaat, in dem es ein entsprechendes System gibt, festgelegt worden ist, darf Erbringern staaten­über­grei­fender Dienst­leis­tungen, die Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats entsenden, nicht durch eine auf die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbare gesetzliche Maßnahme dieses Mitgliedstaats vorgeschrieben werden.

Nieder­säch­sisches Landes­ver­ga­be­gesetz fordert Bezahlung nicht unterhalb des Tariflohns

Das Nieder­säch­sische Landes­ver­ga­be­gesetz sieht u. a. vor, dass Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen vergeben werden dürfen, die sich schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmern mindestens das tarif­ver­traglich vorgesehene Entgelt zu zahlen. Der Auftragnehmer muss sich zudem verpflichten, diese Verpflichtung Nachun­ter­nehmern aufzuerlegen und ihre Beachtung zu überwachen. Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung löst die Zahlung einer Vertragsstrafe aus.

Deutsches Unternehmen "Objekt und Bauregie" verpflichtete sich für Bau einer JVA den Tariflohn des Baugewerbes zu bezahlen

Aufgrund dieser Bestimmungen verpflichtete sich das Unternehmen Objekt und Bauregie, den beim Bau der Justiz­voll­zugs­anstalt Göttingen-Rosdorf eingesetzten Arbeitnehmern die im entsprechenden Tarifvertrag für das Baugewerbe (im Folgenden: Baugewerbe-Tarifvertrag) vorgesehenen Entgelte zu zahlen.

Polnischer Nachunternehmer zahlte nicht einmal 50 % des Mindestlohns

Es stellte sich jedoch heraus, dass ein polnisches Unternehmen als Nachunternehmer von Objekt und Bauregie seinen auf der Baustelle eingesetzten 53 Arbeitnehmern nur 46,57 % des vorgesehenen Mindestlohns gezahlt hatte, was in einem gegen den Haupt­ver­ant­wort­lichen des polnischen Unternehmens ergangenen Strafbefehl festgestellt wurde.

Deutsches Unternehmen soll Vertragsstrafe zahlen

Nachdem der Werkvertrag aufgrund der Straf­ver­fol­gungs­maß­nahmen gekündigt worden ist, streiten das Land Niedersachsen und der Insol­venz­ver­walter über das Vermögen des Unternehmens Objekt und Bauregie darüber, ob dieses wegen Verletzung der Entgelt­ver­pflichtung zur Zahlung einer Vertragsstrafe in Höhe von 84 934,31 Euro (entsprechend 1 % der Auftragssumme) verpflichtet ist.

Das Oberlan­des­gericht Celle, das den Rechtsstreit als Berufungs­gericht zu entscheiden hat, hat Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der die Vertragsstrafe vorsehenden Bestimmungen. Es hat dem Gerichtshof daher die Frage vorgelegt, ob der freie Dienst­leis­tungs­verkehr einer gesetzlichen Verpflichtung des Zuschlags­emp­fängers eines öffentlichen Bauauftrags entgegensteht, seinen Arbeitnehmern mindestens das tarif­ver­traglich vorgesehene Entgelt zu zahlen.

EuGH: Baugewerbe-Tarifvertrag ist nicht mit Gemein­schafts­richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern vereinbar

In seinem Urteil gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die fraglichen Bestimmungen mit der Gemein­schafts­richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern unvereinbar sind. Dazu führt er aus, dass der Lohnsatz nach dem Baugewerbe-Tarifvertrag nicht nach einer der in der genannten Richtlinie vorgesehenen Modalitäten festgelegt worden ist. Zwar gibt es in Deutschland ein System zur Allge­mein­ver­bind­li­ch­er­klärung von Tarifverträgen, doch ist der Baugewerbe-Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden. Außerdem erstreckt sich die Bindungswirkung dieses Tarifvertrags nur auf einen Teil der Bautätigkeit, da zum einen die einschlägigen Rechts­vor­schriften nur auf die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbar sind und nicht für die Vergabe privater Aufträge gelten und zum anderen der Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist. Die landes­recht­lichen Vorschriften entsprechen somit nicht den Bestimmungen der Gemein­schafts­richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, nach denen die Mitgliedstaaten bei einer staaten­über­grei­fenden Erbringung von Dienst­leis­tungen den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen Mindest­lohnsätze vorschreiben können.

Wie der Gerichtshof weiter feststellt, wird diese Auslegung der Richtlinie durch deren Würdigung im Licht des Grundsatzes des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs bestätigt. Die Beschränkung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs, die sich aus der Verpflichtung zur Zahlung des tarif­ver­traglich vorgesehenen Entgelts an die Arbeitnehmer ergibt, ist im vorliegenden Fall insbesondere nicht durch den Zweck des Schutzes der Arbeitnehmer gerechtfertigt.

Es ist nämlich nicht nachgewiesen worden, dass ein im Bausektor tätiger Arbeitnehmer nur bei seiner Beschäftigung im Rahmen eines öffentlichen Auftrags für Bauleistungen und nicht bei seiner Tätigkeit im Rahmen eines privaten Auftrags des Schutzes bedarf, der sich aus einem solchen Lohnsatz ergibt, der im Übrigen über den Lohnsatz nach dem deutschen Arbeitnehmer-Entsendegesetz hinausgeht.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 20/08 des EuGH vom 03.04.2008

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