21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil27.10.2011

EuGH: Portugiesische Regelung der Koste­n­er­stattung für ambulante ärztliche Behandlungen in anderem Mitgliedstaat verstößt gegen UnionsrechtPortugal verstößt mit Regelung gegen Verpflichtungen aus Grundsatz des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs

Die portugiesische Regelung der Koste­n­er­stattung für ambulante ärztliche Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat verstößt gegen das Unionsrecht. Die Mitgliedstaaten müssen für ambulante ärztliche Behandlungen, die ohne vorherige Genehmigung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt sind, die Möglichkeit einer Koste­n­er­stattung nach ihren eigenen Sätzen vorsehen, soweit es sich nicht um Behandlungen handelt, die den Einsatz kostspieliger Großgeräte erfordern. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

In Portugal besteht außer in den von der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vorgesehenen Fällen* nur eine begrenzte Möglichkeit, die Erstattung von in einem anderen Mitgliedstaat angefallenen Krank­heits­kosten für ambulante Behandlungen zu erhalten. Zwar sieht nämlich die portugiesische Regelung (konkret das Decreto-Lei Nr. 177/92) die Erstattung von Krank­heits­kosten für diejenigen ambulanten Behandlungen vor, die von ihr als „hochs­pe­zi­a­lisiert“ angesehen werden und die in Portugal nicht durchgeführt werden können, doch hängt diese Erstattung von einer dreifachen vorherigen Genehmigung ab (ein ausführlichen positiver ärztlicher Bericht, die Bestätigung dieses Berichts durch den medizinischen Direktor des Krankenhauses und die positive Entscheidung des Genera­l­di­rektors für Krankenhäuser). Für sonstige ambulante Behandlungen sieht das portugiesische Recht keine Möglichkeit der Koste­n­er­stattung vor.

Kommission portugiesische Regelung für unvereinbar mit freiem Dienst­leis­tungs­verkehr

Die Kommission war der Auffassung, dass diese portugiesische Regelung der Erstattung von in einem anderen Mitgliedstaat entstandenen Krank­heits­kosten für ambulante Behandlungen mit dem freien Dienst­leis­tungs­verkehr unvereinbar sei, und erhob daher die vorliegende Vertrags­ver­let­zungsklage.

Kommission beschränkt Klage auf Koste­n­er­stat­tungs­re­gelung für ärztliche Behandlungen ohne Einsatz kostspieliger Großgeräte

In der Zwischenzeit hat jedoch der Gerichtshof am 5. Oktober 2010 entschieden, dass es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn ein Mitgliedstaat die Koste­n­er­stattung für eine in einem anderen Mitgliedstaat geplante ambulante Behandlung von einer vorherigen Genehmigung abhängig macht, sofern diese Behandlung den Einsatz von kostspieligen medizinischen Großgeräten erfordert. Infolge dieses Urteils hat die Kommission beschlossen, den Gegenstand der vorliegenden Klage zu ändern. Daher bezieht sich die vorliegende Klage auf in einem anderen Mitgliedstaat erfolgte ärztliche Behandlungen, die nicht den Einsatz kostspieliger Großgeräte** erfordern und die nicht von der Verordnung Nr. 1408/71 erfasst sind.

Entgeltliche medizinische Leistungen fallen in Anwen­dungs­bereich der Bestimmungen über freien Dienst­leis­tungs­verkehr

In seinem Urteil erinnert der Gerichtshof der Europäischen Union vorab daran, dass entgeltliche medizinische Leistungen in den Anwen­dungs­bereich der Bestimmungen über den freien Dienst­leis­tungs­verkehr fallen. Der freie Dienst­leis­tungs­verkehr steht der Anwendung jeder nationalen Regelung entgegen, die die Leistung von Diensten zwischen den Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaats erschwert. Hiervon ausgehend untersucht der Gerichtshof erstens den Fall der in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführten ambulanten Behandlungen, die von dem portugiesischen Decreto-Lei erfasst sind und nicht den Einsatz kostspieliger Großgeräte erfordern.

EuGH bejaht Beschränkung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs durch Koste­n­er­stat­tungs­re­gelung

Nach Auffassung des Gerichtshofs stellt das System der vorherigen Genehmigung, von der die Koste­n­er­stattung für diese Art von Behandlungen abhängt, eine Beschränkung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs dar. Die Aussicht auf eine Nichtübernahme der Krank­heits­kosten im Fall einer negativen Verwal­tungs­ent­scheidung ist nämlich für sich allein bereits geeignet, die betreffenden Patienten davon abzuschrecken, sich an einen Erbringer medizinischer Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden. Außerdem sieht die gesetzliche Regelung die Kostenübernahme für medizinische Versorgung im Ausland nur für den Ausnahmefall vor, dass das portugiesische Gesund­heits­system nicht über eine Behand­lungs­lösung für den diesem System angeschlossenen Kranken verfügt. Diese Voraussetzung ist ihrer Art nach geeignet, die Zahl der Fälle, in denen eine Genehmigung erlangt werden kann, stark einzuschränken.

Beschränkung der Koste­n­er­stattung durch keinerlei Gründe gerechtfertigt

Sodann ist der Gerichtshof der Ansicht, dass diese Beschränkung nicht durch zwingende Gründe, insbesondere das angebliche Bestehen einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit, gerechtfertigt werden kann.

Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass nach den ihm vorgelegten Informationen die Aufhebung des Erfordernisses der vorherigen Genehmigung für diese Art der Behandlung nicht derart viele Patienten veranlassen würde, sich ins Ausland zu begeben, dass dadurch das finanzielle Gleichgewicht des portugiesischen Systems der sozialen Sicherheit erheblich gestört würde. Abgesehen von Notfällen begeben sich die Patienten vor allem in den Grenzgebieten oder zur Behandlung spezieller Erkrankungen ins Ausland. Schließlich erinnert der Gerichtshof daran, dass die Versicherten, wenn sie sich ohne vorherige Genehmigung zur Versorgung in einen anderen Mitgliedstaat als den der Niederlassung ihrer Krankenkasse begeben, die Übernahme der Kosten für ihre Versorgung nur insoweit verlangen können, als das Kranken­ver­si­che­rungs­system des Mitgliedstaats der Versi­che­rungs­zu­ge­hö­rigkeit eine Deckung garantiert.

Beschränkung auch nicht mit Blick auf nationale portugiesische Gesund­heits­dienste zu rechtfertigen

Die fragliche Beschränkung kann auch nicht mit Blick auf die wesentlichen Merkmale des portugiesischen nationalen Gesund­heits­dienstes gerechtfertigt werden. Hierzu führt der Gerichtshof insbesondere aus, dass diejenigen Mitgliedstaaten, die wie Portugal ein Sachleis­tungs­system errichtet haben (d. h. ein System, das dem Versicherten einen Anspruch auf die Behandlung selbst gewährt und nicht auf die Erstattung der Kosten für die ärztliche Behandlung), Mechanismen der nachträglichen Erstattung der Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführte Behandlung vorsehen müssen.

Abhängig der Koste­n­er­stattung von Erteilung einer vorherigen Genehmigung verstößt gegen Grundsätze des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs

Folglich gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Portugal dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Grundsatz des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs verstoßen hat, dass es die Möglichkeit einer Erstattung von Krank­heits­kosten für „hochs­pe­zi­a­li­sierte“ ambulante Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat, die nicht den Einsatz von kostspieligen Großgeräten erfordern, von der Erteilung einer vorherigen Genehmigung abhängig macht.

Zweitens untersucht der Gerichtshof den Fall der sonstigen ärztlichen Behandlungen, d. h. der nicht unter das portugiesische Decreto-Lei fallenden ambulanten Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat, die nicht den Einsatz von kostspieligen Großgeräten erfordern und nicht von der Verordnung Nr. 1408/71 erfasst sind. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass das portugiesische Recht keine Möglichkeit der Koste­n­er­stattung für diese Art von Behandlungen - wie beispielsweise die Konsultation eines Allgemeinarztes oder Zahnarztes ohne vorherige Genehmigung – vorsieht. Da für diese Art von Behandlungen überhaupt keine Möglichkeit der Koste­n­er­stattung besteht, gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass Portugal gegen seine Verpflichtungen aus dem Grundsatz des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs verstoßen hat.

Erläuterungen

* D. h. wenn der Gesund­heits­zustand des im portugiesischen Gesund­heits­system versicherten Arbeitnehmers oder Selbständigen medizinische Leistungen während eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat erforderlich macht (unvor­her­ge­sehene Behandlungen) oder wenn der Arbeitnehmer oder Selbständige die vorherige Genehmigung des zuständigen Trägers erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um sich dort nach den im Mitgliedstaat der Behandlung geltenden Sätzen behandeln zu lassen (mit vorheriger Genehmigung geplante Behandlungen). Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familien­an­ge­hörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl.L 149, S. 2), ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1).

** Konkret handelt es sich um in den nationalen Rechts­vor­schriften abschließend aufgezählte kostspielige Großgeräte, wie beispielsweise Kernspin­to­mo­gra­fie­geräte oder Kernspin­re­so­nanz­spek­trometer für den klinischen Gebrauch bildgebende Apparate, klinische Magne­tre­so­nanz­sprek­trometer oder Scanner für den medizinischen Gebrauch.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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