Nach der Ersten Richtlinie* der Union im Bereich der obligatorischen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Zwar steht es den Mitgliedstaaten frei, die von dieser Versicherung gedeckten Schäden sowie die Modalitäten der Versicherung zu bestimmen, doch sieht die in diesem Bereich erlassene Zweite Richtlinie** vor, dass die Versicherung Personenschäden in Höhe von mindestens 1.000.000 Euro je Unfallopfer oder 5.000.000 Euro je Schadensfall (dann ungeachtet der Zahl der Geschädigten) decken muss. Für Sachschäden beträgt die Mindestdeckung, ungeachtet der Zahl der Geschädigten, 1.000.000 Euro je Schadensfall.
Herr Haas kam am 7. August 2008 im tschechischen Hoheitsgebiet bei einem Verkehrsunfall ums Leben, der von Herrn Petrík als Fahrer eines Frau Holingová gehörenden Personenkraftfahrzeugs verursacht wurde.
Das in der Slowakei zugelassene Fahrzeug von Frau Holingová, in dem Herr Haas saß, stieß mit einem in der Tschechischen Republik zugelassenen Lastkraftwagen zusammen. Herr Petrík, der diesen Unfall verschuldet hatte, wurde u. a. zum Ersatz des Frau Haasová, der Ehefrau des Todesopfers, durch den Unfall entstandenen Schadens verurteilt. Frau Haasová und ihre Tochter verlangen aber zudem vom Versicherer von Frau Holingová Ersatz des durch den Verlust ihres Ehemanns und Vaters entstandenen immateriellen Schadens.
Das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht führt aus, dass nach dem seines Erachtens im vorliegenden Fall anwendbaren tschechischen Zivilrecht eine natürliche Person Anspruch auf Ersatz des aus einer Beeinträchtigung der Unversehrtheit ihrer Person herrührenden immateriellen Schadens habe. Der Versicherer von Frau Holingová ist jedoch der Ansicht, dass sich die Deckung der obligatorischen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung nach slowakischem Recht nicht auf immaterielle Schäden erstrecke, und lehnt daher den Ersatz eines solchen Schadens ab.
Der Krajský súd v Prešove (Regionalgericht von Prešov, Slowakei) möchte vom Gerichtshof wissen, ob die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung immaterielle Schäden von Personen decken muss, die den Todesopfern eines Verkehrsunfalls nahestanden.
Der Gerichtshof weist in seinem Urteil zunächst darauf hin, dass zwischen der Pflicht der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung zur Deckung von Schäden, die durch Kraftfahrzeuge entstehen, und dem Umfang des Ersatzes dieser Schäden im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten zu unterscheiden ist. Erstere ist nämlich durch die Unionsregelung festgelegt und garantiert, Letzterer hingegen im Wesentlichen durch das nationale Recht geregelt. Dabei steht es den Mitgliedstaaten nach wie vor grundsätzlich frei, im Rahmen ihrer Haftpflichtvorschriften zu regeln, welche von Kraftfahrzeugen verursachten Schäden zu ersetzen sind, welchen Umfang dieser Schadensersatz hat und welche Personen Anspruch darauf haben. Um die bezüglich des Umfangs der Versicherungspflicht zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten fortbestehenden Unterschiede zu verringern, wurde jedoch durch die Union auf dem Gebiet der Haftpflicht eine Deckungspflicht für Sach- und Personenschäden in bestimmter, in der Zweiten Richtlinie festgelegter Höhe eingeführt. Die Mitgliedstaaten müssen daher die gedeckten Schäden sowie die Modalitäten der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung unter Berücksichtigung der Regeln des Unionsrechts bestimmen.
Sodann führt der Gerichtshof aus, dass zu den nach der Zweiten Richtlinie zwingend zu deckenden Personenschäden alle Schäden gehören, die aus einer Beeinträchtigung der Unversehrtheit der Person herrühren, wobei dies körperliche wie seelische Leiden umfasst. Somit gehören zu den nach Unionsrecht zu ersetzenden Schäden die immateriellen Schäden, deren Ersatz aufgrund der Haftpflicht des Versicherten das auf den Rechtsstreit anwendbare nationale Recht vorsieht.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass sich der Schutz der Ersten Richtlinie auf jede Person erstreckt, die nach dem nationalen Haftpflichtrecht Anspruch auf Ersatz des von einem Kraftfahrzeug verursachten Schadens hat. Da das tschechische Recht Frau Haasova und ihrer Tochter nach den Angaben des slowakischen Gerichts einen Anspruch auf Ersatz des infolge des Todes ihres Ehegatten und Vaters erlittenen immateriellen Schadens verschafft, mussten sie in den Genuss des durch diese Richtlinie gewahrten Schutzes kommen können.
In Lettland kann zwar vom Versicherer des Verursachers eines Verkehrsunfalls Ersatz des immateriellen Schadens in Form von Schmerzen und seelischen Leiden infolge des Todes des Versorgers der Familie, einer abhängigen Person oder des Ehegatten verlangt werden, aber nur in Höhe von 100 LVL (etwa 142 Euro) je Antragsteller und verstorbener Person.
Am 14. Februar 2006 kamen die Eltern von Herrn Drozdovs bei einem Verkehrsunfall in Riga (Lettland) ums Leben. Herr Drozdovs, der damals zehn Jahre alt war, wurde daraufhin unter die Vormundschaft seiner Großmutter gestellt. Diese verlangte sodann vom Versicherer des Unfallverursachers als Ersatz für den immateriellen Schaden, den Herr Drozdovs durch den Verlust seiner Eltern erlitten hatte, einen Betrag von 200.000 LVL (etwa 284.820 Euro).
Der Augst.k.s tiesas Sen.ts (Senat des Obersten Gerichtshofs von Lettland), der mit dem Rechtsstreit zwischen Herrn Drozdovs und dem Versicherer befasst ist, stellt dem Gerichtshof zum einen die gleiche Frage wie das slowakische Gericht in der Rechtssache Haasova und möchte zum anderen wissen, ob die im lettischen Recht vorgesehene Begrenzung des Höchstbetrags des aufgrund eines Verkehrsunfalls zu ersetzenden immateriellen Schadens mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Ebenso wie in seinem Urteil in der Rechtssache Haasova führt der Gerichtshof aus, dass die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung immaterielle Schäden von Familienangehörigen des Opfers eines Verkehrsunfalls decken muss, wenn sie nach nationalem Recht Anspruch auf Ersatz solcher Schäden haben. Da das lettische Recht Herrn Drozdovs nach den Angaben des vorlegenden Gerichts einen Anspruch auf Ersatz des infolge des Todes seiner Eltern erlittenen immateriellen Schadens verschafft, musste er in den Genuss des durch die Erste Richtlinie gewahrten Schutzes kommen können.
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass ein Mitgliedstaat, der einen Ausgleichsanspruch für immaterielle Schäden anerkennt, für diese spezielle Kategorie von Schäden, die zu den Personenschäden im Sinne der Zweiten Richtlinie gehören, keine Höchstdeckungssummen vorsehen darf, die unter den durch diese Richtlinie festgelegten Mindestdeckungssummen liegen. In der Richtlinie ist nämlich bezüglich der gedeckten Schäden eine andere Unterscheidung als die zwischen Personen- und Sachschäden weder vorgesehen noch erlaubt.
Erläuterungen
*Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1).
** Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17) in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 (ABl. L 149, S. 14) geänderten Fassung.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 25.10.2013
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online