18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil10.03.2022

EuGH: Möglichkeit einer Klage auf Wieder­ein­tragung oder Entschädigung bei unions­rechts­widrigem Entzug von Nießbrauchs­rechtenVerpflichtung zur Beseitigung rechtswidriger Folgen der nationalen Regelung durch Wieder­ein­tragung oder Entschädigung

Bei Entzug von Nießbrauchs­rechten unter Verstoß gegen das Unionsrecht müssen entsprechende Klagemög­lich­keiten bestehen. Dies gilt selbst dann, wenn eine gerichtliche Anfechtung der rechtswidrigen Löschung dieser Rechte nicht erfolgt ist.

Im Jahr 2013 erließ Ungarn eine Regelung, die am 1. Mai 2014 alle Nießbrauchs­rechte von Personen, die nicht in einem Verwandt­schafts­ver­hältnis zu den Eigentümern der betreffenden landwirt­schaft­lichen Flächen in diesem Mitgliedstaat standen, aufhob. Grossmania, eine ungarische Gesellschaft, deren Gesellschafter natürliche Personen mit der Staats­an­ge­hö­rigkeit anderer Mitgliedstaaten sind, war Inhaberin von Nießbrauchs­rechten, die sie an landwirt­schaft­lichen Parzellen in Ungarn erworben hatte. Nachdem diese Nießbrauchs­rechte am 1. Mai 2014 gemäß der genannten Regelung kraft Gesetzes erloschen waren, wurden sie im Grundbuch gelöscht. Grossmania legte hiergegen keinen Rechtsbehelf ein.

Hintergrund der Entscheidung

Mit seinem Urteil vom 6. März 2018 in den Vorab­ent­schei­dungs­sachen SEGRO und Horváth hatte der Gerichtshof entschieden, dass eine solche Regelung eine ungerecht­fertigte Beschränkung des Grundsatzes des freien Kapitalverkehrs darstellt. Ferner hat der Gerichtshof mit seinem Urteil vom 21. Mai 2019 festgestellt, dass Ungarn mit dem Erlass der in Rede stehenden Regelung gegen diesen Grundsatz und das von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Eigentumsrecht verstoßen hat.

In der Folge des erstgenannten Urteils beantragte Grossmania bei den ungarischen Behörden die Wieder­ein­tragung ihrer Nießbrauchs­rechte im Grundbuch. Dieser Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die in Rede stehende Regelung noch in Kraft sei und der beantragten Wieder­ein­tragung entgegenstehe.

Grossmania erhob gegen diese Verwal­tungs­ent­scheidung Klage beim Gyori Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Gyor, Ungarn). Dieses Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob es die genannte Regelung unangewendet lassen und die ungarischen Behörden verpflichten müsse, diese Rechte wieder einzutragen, obwohl Grossmania die Löschung ihrer Nießbrauchs­rechte nicht gerichtlich angefochten hat.

Bindung des nationalen Gerichts an vorherige Feststellungen des EuGH

Mit seinem heute ergangenen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass, wenn er bereits eine eindeutige Antwort auf eine Vorab­ent­schei­dungsfrage nach der Auslegung des Unionsrechts gegeben hat, wie im vorliegenden Fall im Urteil SEGRO und Horváth, der nationale Richter alles Erforderliche tun muss, damit diese Auslegung umgesetzt wird. Da die in Rede stehende nationale Regelung mit dem Grundsatz des freien Kapitalverkehrs unvereinbar ist, ist das ungarische Gericht insbesondere verpflichtet, diese Regelung bei seiner Prüfung, ob der Antrag auf Wieder­ein­tragung abgelehnt werden durfte, außer Acht zu lassen.

Besondere Bedeutung des Recht­mä­ßig­keits­er­for­der­nisses

Im Hinblick darauf, dass Grossmania seinerzeit die Löschung ihrer Nießbrauchs­rechte nicht angefochten hatte, führt der Gerichtshof sodann aus, dass das Unionsrecht grundsätzlich nicht verlangt, dass eine Verwal­tungs­behörde verpflichtet ist, eine bestands­kräftige Verwal­tungs­ent­scheidung zurückzunehmen, selbst wenn sie gegen das Unionsrecht verstößt. Allerdings können besondere Umstände eine nationale Verwal­tungs­behörde verpflichten, eine solche Entscheidung zu überprüfen, um einen Ausgleich zwischen dem Erfordernis der Rechts­si­cherheit und dem der Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht zu finden. Die in Rede stehende nationale Regelung stellt aber eine offensichtliche und schwerwiegende Verletzung sowohl des Grundsatzes des freien Kapitalverkehrs als auch des durch die Charta garantierten Eigentumsrechts dar, und scheint weitreichende negative wirtschaftliche Auswirkungen gehabt zu haben. Somit kommt im Zusammenhang mit der Suche nach dem genannten Ausgleich dem Erfordernis der Rechtmäßigkeit im vorliegenden Fall besondere Bedeutung zu.

Löschungs­ent­schei­dungen aufgrund irreführender Regelung außer Acht zu lassen

Der Gerichtshof weist außerdem darauf hin, dass, auch wenn Grossmania die Löschung ihrer Nießbrauchs­rechte nicht gerichtlich angefochten hat, die in Rede stehende Regelung geeignet ist, die früheren Inhaber dieser Rechte hinsichtlich der Frage der Erfor­der­lichkeit der Anfechtung der Löschungs­ent­scheidung für die Wahrung ihrer Nießbrauchs­rechte in die Irre zu führen. Diese Rechte sind nämlich gemäß der nationalen Regelung „kraft Gesetzes“ erloschen, also ohne dass nachfolgende Handlungen zur Umsetzung dieses Erlöschens erforderlich waren. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die ungarischen Gerichte im Rahmen eines Rechtsstreits über die Ablehnung eines Antrags auf Wieder­ein­tragung gelöschter Nießbrauchs­rechte die betreffende Löschungs­ent­scheidung außer Acht lassen müssen, selbst wenn sie zwischen­zeitlich bestandskräftig geworden ist.

Verpflichtung zur Beseitigung rechtswidriger Folgen der nationalen Regelung durch Wieder­ein­tragung oder Entschädigung

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die ungarischen Behörden und Gerichte verpflichtet sind, alle Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die rechtswidrigen Folgen der nationalen Regelung zu beheben. Solche Maßnahmen können vor allem in der Wieder­ein­tragung der rechtswidrig gelöschten Nießbrauchs­rechte im Grundbuch bestehen. Sollte eine solche Wieder­ein­tragung unmöglich sein, etwa weil sie Rechte verletzen würde, die Dritte nach der Löschung der betreffenden Nießbrauchs­rechte gutgläubig erworben haben, müsste den früheren Inhabern der aufgehobenen Nießbrauchs­rechte ein Anspruch auf eine finanzielle oder sonstige Entschädigung gewährt werden, deren Wert geeignet wäre, den durch die Aufhebung dieser Rechte entstandenen wirtschaft­lichen Verlust finanziell auszugleichen. Darüber hinaus haben die früheren Inhaber auch Anspruch auf Ersatz der Schäden, die sie infolge dieser Aufhebung erlitten haben, sofern die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind, was vorliegend der Fall zu sein scheint.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union, ra-online (pm/cc)

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