03.12.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil26.03.2019

Recht auf Einreise und Aufenthalt: Vormundschaft gemäß Regelung der algerischen Kafala ist nicht mit Adoption gleichzusetzenMinderjährigem muss nach Würdigung der Umstände Einreise und Aufenthalt in EU-Mitgliedsstaat des Vormunds aber erleichtert werden

Ein Minderjähriger, für den ein Unionsbürger nach der Regelung der algerischen Kafala die Vormundschaft übernommen hat, kann nicht als "Verwandter in gerader absteigender Linie" dieses Unionsbürgers angesehen werden. Der Mitgliedstaat, in dem der Unionsbürger wohnt, muss jedoch nach einer Würdigung die Einreise des Minderjährigen in sein Hoheitsgebiet und seinen Aufenthalt dort erleichtern. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Zwei im Vereinigten Königreich lebende Ehegatten französischer Staats­an­ge­hö­rigkeit beantragten bei den Behörden dieses Mitgliedstaats für ein algerisches Kind, dessen Betreuung ihnen in Algerien nach der Regelung der Kafala, einer Einrichtung des Familienrechts einiger Länder mit islamischer Tradition, übertragen wurde, eine Einrei­se­er­laubnis als Adoptivkind. Die britischen Behörden lehnten diesen Antrag ab. Die Ablehnung focht das Kind mit einem Rechtsbehelf an.

Ist Kind als "Verwandter in gerader absteigender Linie" anzusehen?

In diesem Zusammenhang möchte der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vom Gerichtshof der Europäischen Union zusammengefasst wissen, ob das Kind nach der Freizü­gig­keits­richt­linie* als "Verwandter in gerader absteigender Linie" der Personen angesehen werden kann, die seine Betreuung nach der algerischen Kafala übernommen haben. Dies würde dem Kind ein Recht auf Einreise in das Vereinigte Königreich verschaffen.

Zwei Möglichkeiten für Einreise und Aufenthalt

Die Richtlinie sieht zwei Wege vor, auf denen ein Kind, das kein Unionsbürger ist, in Begleitung von Personen, mit denen ein "Familienleben" besteht, in einen Mitgliedstaat einreisen und sich dort aufhalten kann. Bei Verwandten in gerader absteigender Linie besteht dieses Recht auf Einreise und Aufenthalt praktisch automatisch, während bei anderen Familien­an­ge­hörigen, denen der primär aufent­halts­be­rechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt oder mit denen er in häuslicher Gemeinschaft lebt, für die Gewährung dieses Rechts zuvor eine Würdigung der Umstände erforderlich ist.

Kindes unter Kafala verleiht Kind nicht die Stellung eines Erben des Vormunds

In seinem Urteil stellte der Gerichtshof zunächst fest, dass die Kafala nach algerischem Recht die Verpflichtung eines Erwachsenen darstelle, sich genauso, wie es ein Elternteil für sein eigenes Kind täte, um den Unterhalt, die Erziehung und den Schutz eines Kindes zu kümmern und die gesetzliche Vormundschaft über dieses Kind auszuüben. Im Unterschied zu einer Adoption, die das algerische Recht verbiete, verleihe die Betreuung eines Kindes unter Kafala dem Kind nicht die Stellung eines Erben des Vormunds. Zudem ende die Kafala mit der Volljährigkeit des Kindes und könne auf Antrag der leiblichen Eltern oder des Vormunds aufgehoben werden.

Der Gerichtshof prüfte sodann, ob der in Freizü­gig­keits­richtlinie enthaltene Begriff "Verwandter in gerader absteigender Linie" eines Unionsbürgers dahin auszulegen sei, dass er ein Kind umfasse, dass nach der algerischen Kafala dauerhaft unter die gesetzliche Vormundschaft eines Unionsbürgers gestellt wurde.

Richtlinie enthält keine Definition des Begriffs "Verwandter in gerader absteigender Linie"

Der Gerichtshof bestätigte insoweit, dass aus dem Gebot einer einheitlichen Anwendung des Rechts der Union wie auch des Gleich­heits­satzes folge, dass die Begriffe der Freizü­gig­keits­richtlinie in Ermangelung eines Verweises auf das Recht der Mitgliedstaaten in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssten. Da die Richtlinie außerdem keine Definition des Begriffs "Verwandter in gerader absteigender Linie" enthalte, seien bei der Auslegung dieses Begriffs nicht nur der Wortlaut der fraglichen Vorschrift, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.

Begriff "Abstam­mungs­ver­hältnis" ist weit aufzufassen

In diesem Zusammenhang wies der Gerichtshof darauf hin, dass der Begriff "Verwandter in gerader absteigender Linie" gemeinhin auf das Bestehen eines Abstam­mungs­ver­hält­nisses in gerader Linie verweise, das die betroffene Person mit einer anderen Person verbindet. Der Begriff "Abstam­mungs­ver­hältnis" sei weit aufzufassen, so dass er jedes Abstam­mungs­ver­hältnis, unabhängig davon, ob es biologischer oder rechtlicher Art sei, erfasse und der Begriff "Verwandter in gerader absteigender Linie" eines Unionsbürgers demgemäß dahin zu verstehen sei, dass er sowohl jedes leibliche als auch jedes adoptierte Kind eines Unionsbürgers erfasse, wenn nachgewiesen sei, dass die Adoption ein rechtliches Abstam­mungs­ver­hältnis zwischen dem betroffenen Kind und dem betroffenen Unionsbürger begründet.

Gemäß Kafala unter Vormundschaft gestelltes Kind ist nicht als "Verwandter in gerade absteigender Linie" anzusehen

Der Gerichtshof stellte fest, dass ein Kind, das nach der Regelung der algerischen Kafala unter die gesetzliche Vormundschaft von Unionsbürgern gestellt sei, nicht als "Verwandter in gerade absteigender Linie" eines Unionsbürgers angesehen werden könne, da die Betreuung eines Kindes nach dieser Regelung kein Abstam­mungs­ver­hältnis zwischen dem Kind und seinem Vormund begründet.

Kind ist unter den Begriff des anderen "Familien­an­ge­hörigen" zu fassen

Jedoch war der Gerichtshof der Ansicht, dass ein solches Kind unter einen anderen Begriff der Freizü­gig­keits­richtlinie zu fassen sei, nämlich den des anderen "Familien­an­ge­hörigen". Dieser Begriff sei nämlich geeignet, die Situation eines Kindes zu erfassen, das von Unionsbürgern unter einer Regelung der gesetzlichen Vormundschaft wie der algerischen Kafala betreut werde und für das diese Unionsbürger den Unterhalt, die Erziehung und den Schutz gemäß einer auf der Grundlage des Rechts des Herkunftslands des Kindes eingegangenen Verpflichtung übernehmen.

Einheit der Familie im weiteren Sinne ist zu wahren

Der Gerichtshof hob hervor, dass das Ziel der Freizü­gig­keits­richtlinie insoweit darin bestehe, die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren, indem die Einreise und der Aufenthalt von Personen erleichtert würden, die aufgrund besonderer tatsächlicher Umstände, beispielsweise einer finanziellen Abhängigkeit, der Zugehörigkeit zum Haushalt oder schwerwiegender gesund­heit­licher Gründe, enge und stabile familiäre Beziehungen zu einem Unionsbürger haben.

Entscheidung über Einreiseantrag muss auf eingehender Untersuchung persönlicher Umstände beruhen

Der Gerichtshof unterstrich, dass die Mitgliedstaaten daher vorsehen müssten, dass Personen eine Entscheidung über ihren Einreiseantrag erhalten können, die auf einer eingehenden Untersuchung ihrer persönlichen Umstände, bei der verschiedene Faktoren zu berücksichtigen sind, beruhe und die im Fall der Ablehnung begründet werde. Zudem müsse von dem Ermes­sens­spielraum, den die Mitgliedstaaten haben, im Licht und unter Beachtung der Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere des Rechts auf Achtung des Familienlebens und des Schutzes des Kindeswohls, Gebrauch gemacht werden.

Behörden müssen ausgewogene und sachgerechte Würdigung aller aktuellen und relevanten Umstände des einzelnen Falles treffen

Der Gerichtshof gelangte zu der Schluss­fol­gerung, dass die zuständigen nationalen Behörden die Einreise und den Aufenthalt eines unter der gesetzlichen Vormundschaft von Unionsbürgern nach der Regelung der algerischen Kafala stehenden Kindes als "Familien­an­ge­hörigen" eines Unionsbürgers erleichtern müssten, indem sie eine ausgewogene und sachgerechte Würdigung aller aktuellen und relevanten Umstände des einzelnen Falles unter Berück­sich­tigung sämtlicher Interessen, insbesondere des Wohls des betroffenen Kindes, vornehmen. Bei dieser Würdigung seien auch die möglichen konkreten und indivi­du­a­li­sierten Gefahren zu berücksichtigen, dass das betroffene Kind Opfer von Missbrauch, Ausbeutung oder Menschenhandel sein könnte. Dabei können solche Gefahren jedoch nicht allein aufgrund des Umstands vermutet werden, dass das Verfahren über eine Betreuung nach der Regelung der algerischen Kafala auf einer Beurteilung der Eignung des Erwachsenen und des Interesses des Kindes beruhe, das weniger umfassend sein soll als das Verfahren, das im Aufnah­me­mit­gliedstaat für eine Adoption oder Betreuung eines Kindes vorgesehen ist.

Grundrecht der Achtung des Familienlebens gebietet Gewährung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt des Kindes

Für den Fall, dass nach Abschluss dieser Würdigung feststehe, dass das Kind und sein Vormund, der Unionsbürger ist, ein tatsächliches Familienleben führen sollen und dass das Kind von seinem Vormund abhängig sei, gebiete das Grundrecht der Achtung des Familienlebens in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berück­sich­tigung des Kindeswohls grundsätzlich die Gewährung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt dieses Kindes, um es ihm zu ermöglichen, mit seinem Vormund in dessen Aufnah­me­mit­gliedstaat zu leben.

Erläuterungen

* Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004,L158,S.77, und Berichtigung in ABl. 2004,L229,S.35).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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