18.10.2024
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Dokument-Nr. 31339

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil18.01.2022

EuGH: Widerruf einer Einbürgerungs­zusicherung unzulässigGrundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit gewahrt sein

Beim Widerruf einer Einbürgerungs­zusicherung muss, wenn er die Wiedererlangung der Unions­bür­ger­schaft verhindert, der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit gewahrt sein. Das hat der Europäische Gerichtshof entschieden.

Im Jahr 2008 beantragte JY, eine damals estnische Staats­an­ge­hörige mit Wohnsitz in Österreich, die Verleihung der öster­rei­chischen Staats­bür­ger­schaft. Mit Bescheid vom 11. März 2014 sicherte ihr die damals zuständige österreichische Verwal­tungs­be­hörde1 die Verleihung der öster­rei­chischen Staats­bür­ger­schaft für den Fall zu, dass sie binnen zwei Jahren das Ausscheiden aus dem estnischen Staats­bür­ger­schafts­verband nachweise. JY legte fristgemäß die Bestätigung vor, dass sie am 27. August 2015 aus dem estnischen Staats­bür­ger­schafts­verband entlassen worden sei. Seit diesem Zeitpunkt ist JY staatenlos.

Widerruf der Einbür­ge­rungs­zu­si­cherung wegen Verwal­tungs­über­tre­tungen

Im Juli 2017 widerrief die nunmehr zuständig gewordene österreichische Verwal­tungs­be­hörde2 den Bescheid vom 11. März 2014 gemäß dem nationalen Recht und wies das Ansuchen von JY um Verleihung der öster­rei­chischen Staats­bür­ger­schaft ab. Sie begründete dies damit, dass JY die im nationalen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Verleihung der Staats­bür­ger­schaft nicht mehr erfülle. JY habe nämlich, nachdem ihr die Verleihung der öster­rei­chischen Staats­bür­ger­schaft zugesichert worden sei, zwei schwerwiegende Verwal­tungs­über­tre­tungen begangen, indem sie zum einen an ihrem Fahrzeug die Begut­ach­tungs­plakette nicht angebracht habe und zum anderen in alkoholisiertem Zustand gefahren sei. Ferner habe sie acht vor Erteilung dieser Zusicherung begangene Verwal­tungs­über­tre­tungen zu vertreten.

EU-Recht zu beachten?

Da ihre Beschwerde gegen diesen Bescheid abgewiesen wurde, erhob JY Revision an den Verwal­tungs­ge­richtshof (Österreich). Dieser hält nach öster­rei­chischem Recht unter Berück­sich­tigung der von JY vor und nach der Zusicherung der öster­rei­chischen Staats­bür­ger­schaft begangenen Verwal­tungs­über­tre­tungen die Voraussetzungen für den Widerruf dieser Zusicherung für gegeben. Er sieht sich jedoch vor die Frage gestellt, ob die Situation, in der sich JY befindet, unter das Unionsrecht fällt und ob die zuständige Verwal­tungs­behörde beim Erlass ihres Bescheids über den Widerruf der Einbürgerungszusicherung, der JY daran hindert, die Unions­bür­ger­schaft wieder­zu­er­langen, das Unionsrecht beachten musste, insbesondere, im Hinblick auf die Folgen dieses Bescheids für die Situation von JY, den darin verankerten Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit.

EuGH bejahrt Anwendung des EU-Rechts

Als Erstes befindet der Gerichtshof, dass die Situation einer Person, die die Staats­an­ge­hö­rigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese mit der Folge des Verlusts ihres Unions­bür­g­er­status zwecks Erwerbs der Staats­an­ge­hö­rigkeit eines anderen Mitgliedstaats aufgibt, nachdem ihr die Behörden dieses Mitgliedstaats die Verleihung von dessen Staats­bür­ger­schaft zugesichert haben, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt, wenn diese Zusicherung widerrufen wird und die betroffene Person infolgedessen daran gehindert wird, den Unions­bür­g­er­status wieder­zu­er­langen.

Unions­bür­g­er­status nicht aus freien Stücken aufgegeben

Hierzu stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass JY beim Widerruf der besagten Zusicherung staatenlos war und ihren Unions­bür­g­er­status verloren hatte. Da der Antrag auf Entlassung aus der Staats­an­ge­hö­rigkeit ihres Herkunfts­mit­glied­staats im Rahmen eines Einbür­ge­rungs­ver­fahrens mit dem Ziel des Erwerbs der öster­rei­chischen Staats­bür­ger­schaft gestellt wurde und darauf zurückgeht, dass JY unter Berück­sich­tigung der ihr erteilten Zusicherung den mit diesem Verfahren verbundenen Anforderungen nachgekommen ist, kann nicht angenommen werden, dass in einer solchen Lage der Unions­bür­g­er­status aus freien Stücken aufgegeben wurde. Vielmehr zielt, nachdem der Aufnah­me­mit­gliedstaat die Verleihung seiner Staats­bür­ger­schaft zugesichert hat, der Antrag auf Entlassung aus der bisherigen Staats­an­ge­hö­rigkeit darauf ab, eine Voraussetzung für den Erwerb der besagten Staats­bür­ger­schaft zu erfüllen und nach deren Verleihung weiterhin den Unions­bür­g­er­status und die damit verbundenen Rechte in Anspruch zu nehmen.

Widerruf berührt Unions­bür­g­er­status insgesamt

Sodann ist es, wenn die Behörden des Aufnah­me­mit­glied­staats im Rahmen eines Einbür­ge­rungs­ver­fahrens die Einbür­ge­rungs­zu­si­cherung widerrufen, der betroffenen Person, die Staats­an­ge­hörige nur eines anderen Mitgliedstaats war und ihre ursprüngliche Staats­an­ge­hö­rigkeit aufgegeben hat, um den mit dem Einbür­ge­rungs­ver­fahren verbundenen Anforderungen nachzukommen, unmöglich, die sich aus ihrem Unions­bür­g­er­status ergebenden Rechte weiterhin geltend zu machen. Ein solches Verfahren berührt insgesamt den Status, der den Angehörigen der Mitgliedstaaten mit Art. 20 AEUV verliehen wird. Es kann nämlich dazu führen, dass einer Person in der Situation von JY die mit diesem Status verbundenen Rechte verloren gehen, obwohl sie bei Beginn dieses Verfahrens Angehörige eines Mitgliedstaats war und damit den Unions­bür­g­er­status innehatte.

EuGH stellt Verlust der Rechte auf Freizügigkeit innerhalb der Union fest

Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass JY als estnische Staats­an­ge­hörige von ihrer Freizügigkeit und Aufent­halts­freiheit Gebrauch gemacht hat, als sie sich in Österreich niederließ, wo sie seit mehreren Jahren wohnt, und führt weiter aus, dass nach der Logik der mit Art. 21 Abs. 1 AEUV geförderten schrittweisen Integration in die Gesellschaft des Aufnah­me­mit­glied­staats die Situation eines Unionsbürgers, dem in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit innerhalb der Union aus dieser Bestimmung Rechte erwachsen und der dem Verlust nicht nur dieser Rechte, sondern auch ebendieser Eigenschaft als Unionsbürger ausgesetzt ist, obwohl er sich im Wege der Einbürgerung im Aufnah­me­mit­gliedstaat um eine verstärkte Eingliederung in dessen Gesellschaft bemüht hat, in den Anwen­dungs­bereich der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unions­bür­ger­schaft fallen muss.

Folgen eines Widerrufs an Verhält­nis­mä­ßigkeit zu messen

Als Zweites legt der Gerichtshof Art. 20 AEUV dahin aus, dass die zuständigen nationalen Behörden und die Gerichte des Aufnah­me­mit­glied­staats zu prüfen haben, ob der Widerruf, durch den der Verlust des Unions­bür­g­er­status für die betreffende Person endgültig wird, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation dieser Person mit dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit vereinbar ist. Diesem Erfordernis der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit ist nicht genügt, wenn der Widerruf mit straßen­ver­kehrs­recht­lichen Verwal­tungs­über­tre­tungen begründet wird, die nach dem anwendbaren nationalen Recht rein finanziell geahndet werden.

Einbür­ge­rungs­ver­fahren darf nicht zum Verlust des Unions­bür­g­er­status führen

Zu diesem Ergebnis gelangt der Gerichtshof, indem er feststellt, dass, wenn im Rahmen eines in einem Mitgliedstaat eingeleiteten Einbür­ge­rungs­ver­fahrens dieser Mitgliedstaat von einem Unionsbürger die Aufgabe der Staats­an­ge­hö­rigkeit seines Herkunfts­mit­glied­staats verlangt, die Ausübung und die praktische Wirksamkeit der Rechte, die diesem Bürger nach Art. 20 AEUV zustehen, erfordern, dass er zu keinem Zeitpunkt Gefahr laufen darf, seinen grundlegenden Status als Unionsbürger deshalb zu verlieren, weil dieses Verfahren betrieben wird. Jeder auch nur vorübergehende Verlust dieses Status nimmt nämlich der betroffenen Person für unbestimmte Zeit die Möglichkeit des Genusses aller mit diesem Status verliehenen Rechte. Beantragt ein Angehöriger eines Mitgliedstaats die Entlassung aus seiner Staats­an­ge­hö­rigkeit, um die Staats­an­ge­hö­rigkeit eines anderen Mitgliedstaats erwerben und damit weiterhin den Unions­bür­g­er­status genießen zu können, sollte der Herkunfts­mit­gliedstaat deshalb nicht auf der Grundlage der Einbür­ge­rungs­zu­si­cherung dieses anderen Mitgliedstaats eine endgültige Entscheidung über das Erlöschen der Staats­an­ge­hö­rigkeit erlassen, ohne sicherzustellen, dass diese Entscheidung erst in Kraft tritt, wenn die neue Staats­an­ge­hö­rigkeit tatsächlich erworben wurde.

Aufnah­me­mit­gliedstaat zuständig für Gewährung der Unionsrechte

Davon abgesehen trifft, wenn der Unions­bür­g­er­status bereits vorläufig verloren wurde, weil der Herkunfts­mit­gliedstaat die betreffende Person im Rahmen eines Einbür­ge­rungs­ver­fahrens aus seiner Staats­an­ge­hö­rigkeit entlassen hat, bevor diese Person tatsachlich die Staats­an­ge­hö­rigkeit des Aufnah­me­mit­glied­staats erworben hat, die Verpflichtung zur der praktischen Wirksamkeit von Art. 20 AEUV in erster Linie den letztgenannten Mitgliedstaat. Diese Verpflichtung besteht insbesondere dann, wenn es um die Entscheidung, eine Einbür­ge­rungs­zu­si­cherung zu widerrufen, geht, die zur Folge haben kann, dass der Verlust des Unions­bür­g­er­status endgültig wird. Eine solche Entscheidung kann daher nur aus legitimen Gründen und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit getroffen werden. Bei der Untersuchung der Verhält­nis­mä­ßigkeit ist u. a. zu prüfen, ob eine solche Entscheidung im Verhältnis zur Schwere der von der betroffenen Person begangenen Verstöße gerechtfertigt ist.

Rein finanziell ahnbare Verstöße gegen die Straßen­ver­kehrs­ordnung kein Widerrufsgrund

Was JY betrifft, können die vor der Einbür­ge­rungs­zu­si­cherung liegenden Verstöße, da sie deren Erteilung nicht entgegenstanden, keine spätere Berück­sich­tigung finden, um die Wider­ruf­s­ent­scheidung zu tragen. Die nach Erhalt der Einbür­ge­rungs­zu­si­cherung begangenen Verstöße lassen ihrerseits in Anbetracht ihrer Art und Schwere sowie unter Berück­sich­tigung des Erfordernisses einer engen Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit nicht erkennen, dass von JY eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, oder eine Beein­träch­tigung der öffentlichen Sicherheit Österreichs ausgeht. Rein finanziell ahnbare Verstöße gegen die Straßen­ver­kehrs­ordnung können nicht belegen, dass die dafür verantwortliche Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, die es rechtfertigen kann, dass der Verlust ihres Unions­bür­g­er­status endgültig wird.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union, ra-online (pm/ab)

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