Dokument-Nr. 1043
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Bundesverwaltungsgericht Urteil06.10.2005
Fehlerhafte Ausweisungspraxis bei türkischen Staatsangehörigen
Das Bundesverwaltungsgericht hat eine vom Regierungspräsidium Stuttgart verfügte Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen in Anwendung von europäischem Gemeinschaftsrecht wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers für rechtswidrig erklärt.
Geklagt hatte ein 1979 in Berlin als Kind türkischer Arbeitnehmer geborener türkischer Staatsangehöriger, der ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei (nach Art. 7 ARB 1/80) besitzt. Im September 2000 wurde er in Stuttgart u.a. wegen Handeltreibens mit Haschisch zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt und deshalb im Oktober 2001 vom Regierungspräsidium – unter Anordnung des später vom Verwaltungsgericht aufgehobenen Sofortvollzugs – ausgewiesen. Seit der Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug im April 2002 lebt der Kläger wieder bei seiner Familie in Stuttgart.
Mit der Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht erneut die Ausweisungspraxis in Baden-Württemberg beanstandet. In diesem Bundesland sind seit 1999 für Ausweisungen von Straftätern – auch von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen – nur noch die Regierungspräsidien als einzige Verwaltungsinstanz zuständig; das Widerspruchsverfahren ist abgeschafft worden. Diese Verfahrensweise ist, wie das Bundesverwaltungsgericht erst kürzlich entschieden hat (BVerwG, Urteil v. 13.09.2005), mit den derzeitigen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben (Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG) nicht vereinbar, es sei denn, es hätte ausnahmsweise ein "dringender Fall" vorgelegen. Für einen solchen Ausnahmefall bestanden hier keine Anhaltspunkte, zumal bereits das Verwaltungsgericht die sofortige Vollziehung der Ausweisung gestoppt hatte und der Kläger daher auch nicht aus der Haft heraus in die Türkei abgeschoben werden konnte.
Das Bundesverwaltungsgericht hat auch den Einwand des Regierungspräsidiums zurückgewiesen, der Kläger könne sich auf die europarechtlichen Verfahrensgarantien nicht berufen, weil sein aus Assoziationsrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht auf jeden Fall durch die Verbüßung der Jugendstrafe wieder erloschen sei. Es hat insoweit auf die inzwischen eindeutige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg (EuGH) verwiesen. Danach bestehen die Aufenthaltsrechte freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger und assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger grundsätzlich auch bei längerer Strafhaft fort. Das Bundesverwaltungsgericht hat außerdem darauf hingewiesen, dass die Erwägung des Regierungspräsidiums in dem angefochtenen Bescheid, die Ausweisung habe "ergänzend" auch aus generalpräventiven Gründen verfügt werden dürfen, mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist. Das Gemeinschaftsrecht lässt eine Ausweisung ausnahmslos nur aus spezialpräventiven Gründen zu, d.h. zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von dem einzelnen Ausländer persönlich ausgehen, nicht aber zur (generalpräventiven) Abschreckung anderer Ausländer.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 06.10.2005
Quelle: Pressemitteilung Nr. 50/05 des BVerwG vom 06.10.2005
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