21.11.2024
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Dokument-Nr. 2348

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.04.2006

Verlegung eines Häftlings in die Nähe seiner Verwandten rechtmäßig

Der in der ehemaligen DDR aufgewachsene Beschwer­de­führer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in einer bayerischen Justiz­voll­zugs­anstalt. Der Zeitpunkt, zu dem eine Entlassung auf Bewährung in Betracht kommt, wird Ende 2009 erreicht sein. Der Beschwer­de­führer beantragte, ihn in eine Vollzugsanstalt des Landes Sachsen zu verlegen, da sämtliche Bezugspersonen, mit denen er regelmäßig Kontakt pflege – insbesondere seine Verlobte, seine Eltern, seine Geschwister und deren Kinder – in den neuen Ländern lebten; in Bayern habe er keine sozialen Kontakte.

Nach seiner Haftentlassung wolle er seinen Lebens­mit­telpunkt zusammen mit seiner Verlobten in der Nähe seiner in Sachsen wohnhaften Schwester suchen. Beide seien bereit, ihm - auch im Rahmen von Vollzugs­lo­cke­rungen - bei der Wieder­ein­glie­derung zu helfen. Teils aus finanziellen oder beruflichen und teils aus gesund­heit­lichen Gründen sei es seinen Verwandten nicht möglich, ihn in der bayerischen Justiz­voll­zugs­anstalt zu besuchen. Die Verlobte verwies der Anstalt gegenüber auf ärztliche Atteste, nach denen ihr lange Reisen ärztlich untersagt seien, die Schwester auf einen Anfahrtsweg von 450 Kilometern und darauf, dass sie im Rahmen ihrer Tätigkeit im Gesund­heitswesen an der Rufbereitschaft teilnehme.

Die Justiz­voll­zugs­anstalt lehnte den Verle­gungs­antrag des Beschwer­de­führers ab. Hiergegen gerichtete Rechtsmittel blieben vor den Fachgerichten ohne Erfolg. Als Grund für eine Verlegung reiche es nicht aus, dass durch sie der Kontakt mit Angehörigen erleichtert würde; andernfalls müsste aus Gründen der Gleich­be­handlung einer solchen Vielzahl von Verle­gungs­wünschen Rechnung getragen werden, dass ein geordneter Vollzug nicht mehr möglich wäre. Ein Anstaltswechsel komme nur bei besonderen, vom Durch­schnittfall abweichenden Erschwerungen des Kontakts zu den Angehörigen in Betracht. Auf seine Verfas­sungs­be­schwerde hin hob die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts die Entscheidung des Landgerichts auf, da sie den in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Resozi­a­li­sie­rungs­an­spruch des Beschwer­de­führers verletze. Die Sache wurde an das Landgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Für das Resozi­a­li­sie­rungsziel, auf das der Strafvollzug von Verfassungs wegen auszurichten ist, haben die familiären Beziehungen des Gefangenen wesentliche Bedeutung. Der Bestand und die Stärkung dieser Beziehungen fördern regelmäßig die Chancen seiner Wieder­ein­glie­derung und sind für freiheits­er­hebliche Entscheidungen (Vollzugs­lo­cke­rungen, Entlassung auf Bewährung) von Belang. Das Straf­voll­zugs­gesetz trägt dem Rechnung, indem es eine Verlegung des Gefangenen ermöglicht, wenn hierdurch die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung gefördert wird.

Die Erwägung, dass die Entscheidung über eine beantragte Verlegung nicht nach Grundsätzen getroffen werden darf, die mit den Erfordernissen eines geordneten Strafvollzuges nicht vereinbar wären, ist verfas­sungs­rechtlich tragfähig. Zur rechtlich vorgesehenen Ordnung des Strafvollzuges gehört aber auch, dass in der Vollstre­ckungs­planung und bei davon abweichenden Verle­gungs­ent­schei­dungen auf den Gesichtspunkt der Förderung des Kontakts zu Angehörigen die verfas­sungs­rechtlich gebotene Rücksicht genommen wird. Unter der Voraussetzung, dass die durch­schnitt­lichen Verhältnisse von einer Praxis geprägt sind, die diesen Anforderungen entspricht, sollten Schwierigkeiten des beiderseits erwünschten Kontakts zu den Angehörigen, wie sie im Falle des Beschwer­de­führers bestehen, gerade nicht den Durch­schnittsfall bilden. Die Feststellung des Landgerichts, besondere, vom Durch­schnittsfall abweichende Erschwernisse lägen im Fall des Beschwer­de­führers nicht vor, ist auf diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Die allgemeine Erwägung, dass finanziell oder gesundheitlich bedingte Kontakt­schwie­rig­keiten keine überdurch­schnitt­lichen, sondern typische Erschwernisse seien, ist offensichtlich unhaltbar. Sie ersetzt die gebotene Würdigung der konkreten Umstände durch eine Pauschal­be­trachtung, die bei konsequenter Anwendung darauf hinausläuft, dass Gefangene auf eine Verlegung in die Nähe ihrer Angehörigen prinzipiell keine Aussicht haben, wenn die Gründe dafür, dass ausreichende Kontakte nur durch Verlegung ermöglicht werden können, finanzieller oder gesund­heit­licher Art sind. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Handhabung nicht nur mit dem grundrechtlich geschützten Resozi­a­li­sie­rungs­in­teresse unvereinbar wäre, sondern auch mit dem Anspruch des Gefangenen, nicht aufgrund der finanziellen oder gesund­heit­lichen Verhältnisse seiner Familien­an­ge­hörigen benachteiligt zu werden gegenüber insoweit besser gestellten Gefangenen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 34/06 des BVerfG vom 09.05.2006

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