21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss09.01.2006

Erfolgreiche Ver­fassungs­beschwerde eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen die Verweigerung der Einsicht in seine Kranken­un­terlagen

Die Ver­fassungs­beschwerde eines in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Straftäters gegen die Verweigerung der Einsicht in seine Kranken­un­terlagen war erfolgreich. Das Bundes­verfassungs­gericht hob die angegriffenen Beschlüsse des Oberlan­des­ge­richts und Landgerichts auf, da sie den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf Selbst­be­stimmung und personale Würde verletzten.

Das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung eines im Rahmen des Maßre­gel­vollzugs Behandelten sei durch die Verweigerung der Einsicht in die Kranken­un­terlagen wesentlich intensiver berührt als in einem privat­recht­lichen Behand­lungs­ver­hältnis. Daher bestehe im Maßregelvollzug an der Akteneinsicht ein besonders starkes verfas­sungs­rechtlich geschütztes Interesse. Dies hätten die Fachgerichte nicht hinreichend gewürdigt. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt:

Der Beschwer­de­führer wurde 1990 zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren verurteilt; zugleich ordnete das Gericht seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an (Maßregelvollzug). Im September 2000 wurden dem Beschwer­de­führer zuvor genehmigte Vollzugs­lo­cke­rungen (Ausgänge und Urlaube außerhalb des Klinikgeländes) widerrufen. Ein Antrag der Verteidigerin auf Einsicht in die vollständigen Kranken­un­terlagen des Beschwer­de­führers wurde von der Klinik abgelehnt. Man könne nach höchst­rich­ter­licher Rechtsprechung nur objektive Befunde wie EEG, EKG und Labordaten zur Verfügung stellen. Vor dem Landgericht und dem Oberlan­des­gericht blieb der Antrag des Beschwer­de­führers, die Klinik zu verpflichten, seiner Verteidigerin Einsicht in sämtliche Kranken­un­terlagen zu gewähren, ohne Erfolg. Seine Verfas­sungs­be­schwerde führte zur Aufhebung der angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die von den Fachgerichten herangezogene Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs, die den Anspruch des Patienten auf Einsicht in die ihn betreffenden Kranken­un­terlagen grundsätzlich auf objektive Befunde beschränkt, bietet für die angegriffenen Entscheidungen keine tragfähige Grundlage. Denn im vorliegenden Fall geht es nicht um ein privat­recht­liches Arzt-Patienten-Verhältnis, sondern um die Reichweite des Infor­ma­ti­o­ns­an­spruchs eines im Maßregelvollzug Untergebrachten. Im Gegensatz zum privat­recht­lichen Behand­lungs­ver­hältnis kann der Untergebrachte seinen Arzt und Therapeuten nicht frei wählen. In einem Bereich, der wie der Maßregelvollzug durch ein besonders hohes Machtgefälle zwischen den Beteiligten geprägt ist, sind die Grundrechte der Betroffenen besonderer Gefährdung ausgesetzt. Das gilt auch in Bezug auf die Führung der Akten und den Zugang zu ihnen. Die Akteneinträge sind wesentlicher Teil der Tatsa­chen­grundlage für künftige Vollzugs- und Vollstre­ckungs­ent­schei­dungen. Von ihnen hängt die Ausgestaltung des Vollzugsalltags des Betroffenen und dessen Aussicht, einzelne Freiheiten oder seine Freiheit insgesamt wieder­zu­er­langen, nicht unwesentlich ab. Vor diesem Hintergrund besteht an der Akteneinsicht im Maßregelvollzug ein besonders starkes verfas­sungs­rechtlich geschütztes Interesse. Der Zugang zu den in den Kranken­un­terlagen enthaltenen Informationen hat zudem Bedeutung für die Effektivität des Rechtsschutzes in Vollzugs- und Vollstre­ckungs­an­ge­le­gen­heiten.

Dem besonderen verfas­sungs­recht­lichen Gewicht des Infor­ma­ti­o­ns­in­teresses, das sich daraus ergibt, muss bei der Abwägung mit entge­gen­ste­henden Interessen Rechnung getragen werden. Dies betrifft sowohl die Abwägung mit etwaigen Interessen der Therapeuten an der Vertraulichkeit ihrer Einträge in die Krankenakte als auch die Berück­sich­tigung denkbarer ungünstiger Auswirkungen eines erweiterten Zugangs zu den Krankenakten auf das Dokumen­ta­ti­o­ns­ver­halten der Therapeuten oder auf das Verhalten des Untergebrachten selbst. Die zu berück­sich­ti­genden Belange müssen sorgfältig ermittelt werden; allgemein gehaltene Befürchtungen, die sich nicht auf substantiierte Anhaltspunkte stützen können, genügen nicht. Erforderlich ist zudem eine Klärung der spezifischen Zwecke der Führung der Krankenakte im Maßregelvollzug und der sich daraus ergebenden dienstlichen Dokumen­ta­ti­o­ns­pflichten. Ohne eine solche Klärung ist eine begründete Einschätzung und Bewertung der Auswirkungen umfassender Zugänglichkeit der Kranken­un­terlagen nicht möglich.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 03/06 des BVerfG vom 24.01.2006

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