18.10.2024
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Dokument-Nr. 9326

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Beschluss18.02.2010Bundesverfassungsgericht2 BvR 2502/08
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JuS 2010, 1039 (Dietrich Murswiek)Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2010, Seite: 1039, Entscheidungsbesprechung von Dietrich Murswiek
  • NVwZ 2010, 702Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2010, Seite: 702
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss18.02.2010

BVerfG: Verfassungs­beschwerde gegen Versuchsreihen am "CERN" unzulässigVersuche bergen nach überwiegender wissen­schaft­licher Meinung kein Gefah­ren­po­tenzial

Eine deutsche Staats­an­ge­hörige kann nicht von der Bundesrepublik Deutschland verlangen, gegen Versuchsreihen der Europäischen Organisation für kernphy­si­ka­lische Forschung (Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire - CERN) einzuschreiten. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und lehnte eine entsprechende Verfassungs­beschwerde ab.

Die Beschwer­de­führerin ist eine deutsche Staats­an­ge­hörige mit Wohnsitz im Ausland. Mit einem Eilantrag zum Verwal­tungs­gericht Köln versuchte sie vergeblich, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, gegen die Versuchsreihen der Europäischen Organisation für kernphy­si­ka­lische Forschung (Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire - CERN) einzuschreiten (vgl. Verwal­tungs­gericht Köln, Beschluss v. 08.09.2008 - 13 L 1123/08 -). In dieser Forschungs­ein­richtung können nach einer in der kernphy­si­ka­lischen Wissenschaft diskutierten Theorie so genannte Miniatur-Schwarze-Löcher erzeugt werden. Nach überwiegender wissen­schaft­licher Meinung birgt dieser Versuchsaufbau am CERN kein Gefah­ren­po­tential. Die Beschwer­de­führerin befürchtet allerdings eine Zerstörung der Erde durch die geplante Versuchsreihe. Mit ihrem Antrag hatte sie auch in der Rechts­mit­te­l­instanz keinen Erfolg.

Beschwer­de­führerin fühlt sich in Grundrechten verletzt

Die Beschwer­de­führerin rügt mit ihrer Verfassungsbeschwerde insbesondere eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Bundesrepublik Deutschland sei wegen ihrer Beteiligung an "CERN" von Verfassungs wegen verpflichtet, auf diese Organisation einzuwirken, um die bei der Versuchsreihe eingesetzte Energie auf ein unbedenkliches Maß zu beschränken. Dies gelte jedenfalls solange, wie die Warnung, die Erde könne zerstört werden, nicht empirisch widerlegt sei.

Generelles Misstrauen gegenüber physikalischen Gesetzen als Beschwerdegrund nicht ausreichend

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat diese Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Sie ist unzulässig, weil die Beschwer­de­führerin nicht substantiiert darlegt, dass sie durch die ablehnenden Gericht­s­ent­schei­dungen in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt ist. Ein schlüssiger Vortrag der Beschwer­de­führerin, der von ihr befürchtete Schaden werde eintreten, fehlt. Für die Darlegung der Möglichkeit eines solchen Schaden­s­ein­tritts genügt es insbesondere nicht, Warnungen auf ein generelles Misstrauen gegenüber physikalischen Gesetzen, also gegenüber theoretischen Aussagen der modernen Natur­wis­sen­schaft zu stützen. Praktisch vernünftige Zweifel setzen wenigstens die Ausein­an­der­setzung mit Gegenbeispielen, also Wider­le­gungs­ver­suchen der jeweiligen Aussagen voraus. Namentlich im Bereich der theoretisch weit fortge­schrittenen Natur­wis­sen­schaften erfordern vernünftige Zweifel zudem ein hinreichendes fachliches Argumen­ta­ti­o­ns­niveau. Dabei kann man sich nicht wie die Beschwer­de­führerin auf solche Hilfserwägungen beschränken, die ihrerseits mit dem bewährten, anerkannten Hinter­grund­wissen des jeweiligen Faches in Widerspruch stehen und nach ihrem eigenen Vortrag bislang weder wissen­schaftlich publiziert, noch auch nur in Umrissen theoretisch ausgearbeitet sind.

Ebensowenig reicht es für einen schlüssigen Vortrag aus, dass die Beschwer­de­führerin Schaden­se­r­eignisse als mögliche Folge der Versuchsreihe ankündigt und diese Ankündigung damit zu begründen sucht, dass sich die Gefährlichkeit der Versuchsreihe eben in den von ihr für möglich gehaltenen Schaden­se­r­eig­nissen manifestiere. Ein solches Vorgehen hinzunehmen hieße, Strategien zu ermöglichen, beliebige Forschungs­an­liegen durch entsprechend projekt­s­pe­zi­fische Warnungen zu Fall zu bringen.

Die Größe eines vermeintlichen Schadens – hier die Vernichtung der Erde – erlaubt keinen Verzicht auf die Darlegung, dass ein wenigstens hypothetisch denkbarer Zusammenhang zwischen der Versuchsreihe und dem Schaden­se­r­eignis besteht.

Ob und inwiefern eine staatliche Schutzpflicht zugunsten Grund­rechts­be­rech­tigter auch in den Fällen besteht, in denen wie vorliegend die behauptete Gefahr von einer Internationalen Organisation ausgeht, an der Deutschland beteiligt ist, bedarf danach keiner Entscheidung.

Bewertungen wissen­schaft­licher Streitfragen und Risiko­ab­schätzung nicht Teil gerichtlicher Kontrolle

Das Oberver­wal­tungs­gericht konnte sich hier darauf beschränken, die von der Bundesregierung vorgenommene Einschätzung des Gefähr­dungs­po­tentials zu kontrollieren. Für diese Bewertung obliegt der Exekutive im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit eine gesteigerte Verantwortung für Entscheidungen, die auf ungewissen Folge­n­ab­schät­zungen beruhen. Das gilt insbesondere dann, wenn wissen­schaftlich und praktisch noch unerschlossenes Neuland betreten wird. Es ist nicht Sache der gerichtlichen Kontrolle, die der Exekutive zugewiesene Wertung wissen­schaft­licher Streitfragen einschließlich der daraus folgenden Risiko­ab­schätzung durch eine eigene Bewertung zu ersetzen.

Mehrheit der Wissenschaftler schließt Möglichkeit des Eintritts eines Schadens­sze­narios aus

Die danach durch die Exekutive pflichtgemäß vorzunehmende Bewertung ist vorliegend erfolgt. Der wissen­schaftliche Meinungsstand zur Gefährlichkeit der von der Organisation betriebenen Versuche lässt sich soweit aus den vorgelegten Unterlagen ersichtlich dahingehend zusammenfassen, dass selbst die Vertreter der Minderheit, die ein Schadens­szenario für möglich halten, lediglich behaupten, dass die von ihnen aufgezeigten theoretischen Denkmodelle, die von einer Vielzahl unwägbarer Prämissen abhängen, bisher nicht widerlegt worden seien. Demgegenüber schließt die Mehrheit der mit dieser Frage befassten Wissenschaftler schon die Möglichkeit des Eintritts dieser Prämissen aus. Entsprechende Szenarien sehen sie sogar als widerlegt an.

Quelle: ra-online, BVerfG

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