21.11.2024
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Dokument-Nr. 31243

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Beschluss09.12.2021Bundesverfassungsgericht2 BvR 1985/16
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Bundesverfassungsgericht Beschluss09.12.2021

Bundes­verfas­sungs­gericht gibt Ex-DDR-Heimkind RechtErfolgreiche Verfassungs­beschwerde betreffend die Rehabilitierung des Beschwer­de­führers wegen einer Heimun­ter­bringung in der ehemaligen DDR

Mit heute veröf­fent­lichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­verfas­sungs­ge­richts entschieden, dass das Landgericht Schwerin und das Oberlan­des­gericht Rostock die Rehabilitierung des Beschwer­de­führers wegen einer 14-monatigen Heimun­ter­bringung in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im Folgenden: DDR) im Anschluss an einen Republik­flucht­versuch mit seiner Mutter in verfas­sungs­widriger Weise abgelehnt haben. Die Gerichte haben die verfassungs­rechtlichen Anforderungen an die Pflicht zur gerichtlichen Sachverhalts­aufklärung grob verkannt; der Beschluss des Oberlan­des­ge­richts verletzt zudem das Willkürverbot. Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

Im Oktober 1977 reiste der damals 13-jährige Beschwer­de­führer zusammen mit seiner Mutter aus der DDR in die Tsche­cho­slowakei, um von dort aus in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Am 17. Oktober 1977 wurden beide von tsche­cho­slo­wa­kischen Sicher­heits­kräften verhaftet. Der Beschwer­de­führer wurde von seiner Mutter getrennt und in einem Gefan­genen­trans­port­fahrzeug der Sicher­heits­organe der DDR zunächst nach Schwerin und zwei Tage später in das Kinderheim „Ernst Thälmann“ verbracht. Seine Mutter befand sich zunächst in Unter­su­chungshaft und wurde im Januar 1978 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Im Juni 1978 wurde sie aus der Haft in die Bundesrepublik ausgesiedelt. Erst am 23. Dezember 1978 konnte die Mutter den Beschwer­de­führer in dem Heim abholen und mit ihm in die Bundesrepublik ausreisen.

Den Antrag des Beschwer­de­führers im Februar 2014, ihn wegen der Heimun­ter­bringung nach dem Straf­recht­lichen Rehabi­li­tie­rungs­gesetz (StrRehaG) zu rehabilitieren, wies das Landgericht als unbegründet zurück. Die hiergegen eingelegte Beschwerde verwarf das Oberlan­des­gericht. Auch eine Anhörungsrüge des Beschwer­de­führers blieb erfolglos.

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist ganz überwiegend zulässig und begründet

1. Die fachge­richt­lichen Beschlüsse beruhen auf einer unzureichenden Aufklärung des entschei­dungs­er­heb­lichen Sachverhalts und verletzen den Beschwer­de­führer daher in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.

a) Im Rehabi­li­tie­rungs­ver­fahren verpflichtet § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG die Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Das Gericht hat sämtliche Erkennt­nis­quellen zu verwenden, die erfahrungsgemäß dazu führen können, die Angaben eines Betroffenen zu bestätigen. Kommt es dieser Verpflichtung nicht nach, so verweigert es dem Betroffenen die gebotene Überprüfung erheblicher Tatsachen und verfehlt damit schlechterdings das gesetzliche Ziel, zur Rehabilitierung politisch (Straf-)Verfolgter die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen der Gerichte oder Entscheidungen der Behörden der ehemaligen DDR zu durchbrechen.

b) Nach diesem Maßstab können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben. Eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle der Heimeinweisung haben die Fachgerichte nicht durchgeführt, da weiterer Aufklä­rungs­bedarf und weitere Aufklä­rungs­mög­lich­keiten bestanden.

aa) Nach verbreiteter oberge­richt­licher Recht­spre­chung­s­praxis, die das Oberlan­des­gericht ersichtlich teilt, war eine Heimeinweisung insbesondere dann rechts­s­taats­widrig, wenn die Eltern eines Kindes aus politischen Gründen in Haft waren und die Heimun­ter­bringung erst dadurch erforderlich wurde, dass aufnahmebereite Dritte von den DDR-Behörden übergangen wurden. Bereits für die Heimeinweisung des Beschwer­de­führers im Oktober 1977 hat das Oberlan­des­gericht diese maßgeblichen Umstände nicht hinreichend ermittelt. Denn es ist den Hinweisen auf die Aufnah­me­be­reit­schaft des älteren Halbbruders, der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Bundesrepublik lebte, sowie der Großeltern stief­vä­ter­li­cherseits nicht nachgegangen.

bb) Auch hat das Oberlan­des­gericht die Gründe dafür nicht hinreichend aufgeklärt, dass der Beschwer­de­führer nach Übersiedlung seiner Eltern in die Bundesrepublik noch ein halbes Jahr im Heim verblieb. Das Gericht geht von „organisatorisch-bürokratischen Hemmnissen“ aus, ohne dass die hierfür herangezogenen Erkenntnisse dies im Grundsatz und erst recht nicht für die Dauer von sechs Monaten tragfähig stützen können. Den Aufklä­rungs­mög­lich­keiten hierzu geht es nicht nach.

Oberlan­des­gericht hat das Willkürverbot verletzt

2. Das Oberlan­des­gericht hat zudem das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Es legt seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde, ohne dass die hierfür maßgeblichen Sachver­halts­fest­stel­lungen nachvollziehbar wären.

a) Ist eine Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich und sachlich schlechthin unhaltbar, drängt sich der Schluss auf, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht.

b) Gemessen an diesen Maßstäben stützt das Oberlan­des­gericht den seiner Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt weder in Bezug auf das Fehlen aufnah­me­be­reiter Dritter noch mit Blick auf das Vorliegen organisatorisch-bürokratischer Hemmnisse für die verzögerte Aussiedlung des Beschwer­de­führers in die Bundesrepublik in nachvoll­ziehbarer Weise auf die festgestellten Anhaltspunkte. Das Oberlan­des­gericht hat festgestellt, die Eltern des Beschwer­de­führers hätten sich nicht aktiv um dessen Aufnahme außerhalb eines Heims bemüht. Dabei hatte der Beschwer­de­führer ausführlich und vom Oberlan­des­gericht als glaubhaft angesehen vorgetragen, dass seine Mutter aus der Haft heraus Briefe an namentlich benannte Verwandte in der DDR geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten hatte. Für das Vorliegen organisatorisch-bürokratischer Hemmnisse finden sich in den Akten keine dokumentierten Verfah­rens­schritte von einer bestimmten Dauer. Soweit das Oberlan­des­gericht Unter­halts­rück­stände und diesbezügliche Unstimmigkeiten zwischen den leiblichen Eltern anführt, ist nicht nachvollziehbar, warum daraus eine Verzögerung der Ausreise und damit der Beendigung der Heimun­ter­bringung folgt. Im Übrigen dürfte zweifelhaft sein, ob es unter rechts­s­taat­lichen Gesichtspunkten ein anerken­nens­wertes Hemmnis für die verzögerte Heimentlassung eines 14-Jährigen ist, die Begleichung von Unter­halts­rück­ständen durch seine Mutter zu erzwingen. Eine fürsorgerische Absicht gegenüber dem betroffenen Kind liegt darin jedenfalls nicht.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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