18.10.2024
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Dokument-Nr. 29653

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Beschluss01.12.2020Bundesverfassungsgericht2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18
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Bundesverfassungsgericht Beschluss01.12.2020

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerden gegen Überstellung nach Rumänien zum Zwecke der Strafverfolgung und Straf­voll­streckung

Der Zweite Senat des Bundes­verfassungs­gerichts hat entschieden, dass die von Fachgerichten für zulässig erachtete Überstellung nach Rumänien zum Zwecke der Strafverfolgung beziehungsweise der Straf­voll­streckung die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) verletzt.

Die Fachgerichte haben die Bedeutung und Tragweite des hier maßgeblichen Unions­grund­rechts aus Art. 4 GRCh verkannt und die damit verbundenen Aufklä­rungs­pflichten nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. Sie haben nicht hinreichend genau geprüft und aufgeklärt, ob eine konkrete Gefahr besteht, dass die Beschwer­de­führer nach der Überstellung in Rumänien unmenschlichen oder erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt sind.

Sachverhalt

Gegen den Beschwer­de­führer zu 1., einen rumänischen Staats­an­ge­hörigen, besteht ein Europäischer Haftbefehl zur Straf­voll­streckung zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren insbesondere wegen versuchten Mordes in Rumänien. Das Kammergericht ordnete die Auslie­fe­rungshaft an. Im Verfah­rens­verlauf teilten die rumänischen Behörden der General­staats­an­walt­schaft Berlin mit, dass der Beschwer­de­führer zu 1. zunächst für eine Quarantänezeit von 21 Tagen in einer Gemein­schaftszelle mit einem persönlichen Raum von mindestens 3 m² untergebracht werde. Die darauffolgende Haftstrafe werde höchst­wahr­scheinlich im geschlossenen Vollzug vollstreckt, in dem er wiederum in einer Gemein­schaftszelle einen persönlichen Raum von 3 m² erhalte. Dort seien alle Räume mit WC, Waschbecken und Duschen ausgestattet. Es gebe natürliches Licht durch ein Fenster, künstliches weißes Neonlicht sowie einen Tisch, Stühle und Kleiderhaken. Kaltes Trinkwasser sei ständig zugänglich, warmes Wasser drei Mal die Woche nach einem von der Anstalt festgelegten Badeprogramm. Alle Räume würden regelmäßig desinfiziert. Nach der Vollstreckung eines Fünftels der Strafe werde der Verfolgte neu beurteilt. Bei einer Verlegung in ein offenes Vollzugsregime stehe ihm ein individueller persönlicher Raum von 2 m² zu. Die Hafträume seien mit WC, Waschbecken, Regalen und Spiegeln ausgestattet. Fünf von acht Hafteinheiten verfügten zudem über Duschen. Es gebe ausreichend Licht, eine natürliche Belüftung, und es werde regelmäßig desinfiziert. Im halboffenen Vollzug seien die Türen tagsüber offen und die Gefangenen könnten sich ohne Begleitung in der Anstalt und auf dem Hof bewegen. Nach dem Abendappell um 19.00 Uhr fänden bis zur Nachtruhe um 22.00 Uhr individuelle Freizeit­tä­tig­keiten in den Hafträumen statt.

Das Kammergericht erklärte die Auslieferung des Beschwer­de­führers zu 1. für zulässig. Die Haftbedingungen des (halb)offenen Vollzugsregimes seien nicht maßgeblich, weil ungewiss sei, ob es zu einer Verlegung kommen werde. Die Überprüfung der Haftbedingungen von Vollzugs­an­stalten, in denen der Beschwer­de­führer später inhaftiert sein könnte, falle in die alleinige Zuständigkeit der Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats. Die Haftbedingungen in der Quarantäne und im geschlossenen Vollzug entsprächen mit einem Mindest­haf­trau­manteil von 3 m² pro Gefangenem den unions­recht­lichen Mindest­vor­schriften aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK.

Gegen den Beschwer­de­führer zu 2., einen irakischen Staats­an­ge­hörigen, besteht ein Europäischer Haftbefehl eines rumänischen Gerichts zur Strafverfolgung wegen Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt. Das Oberlan­des­gericht Celle ordnete Auslie­fe­rungshaft an. Die General­staats­an­walt­schaft Celle erkundigte sich bei den rumänischen Behörden nach den zu erwartenden Haftbedingungen für die Unter­su­chungshaft und für die Straf­voll­streckung nach einer möglichen Verurteilung und bat um Zusicherung von Haftbedingungen, die den Anforderungen von Art. 3 EMRK für jede Form des Strafvollzugs (geschlossen, halboffen und offen) entsprächen. Die rumänischen Behörden teilten mit, dass die Unter­su­chungshaft gegen den Beschwer­de­führer zu 2. in einem Arrestzentrum vollstreckt werde, in dem ihm mindestens 4,15 m² persönlicher Raum einschließlich Bett und Möbeln zur Verfügung stünden. Die Räume könnten belüftet und beheizt werden. Die Insassen hätten Zugang zu fließendem Wasser und sanitären Anlagen und könnten im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen im Freien spazieren. In welcher Haftanstalt der Beschwer­de­führer zu 2. im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung untergebracht würde, stehe noch nicht fest. In einem zweiten Schreiben bat die General­staats­an­walt­schaft die rumänischen Behörden erneut, zuzusichern, dass der dem Beschwer­de­führer nach einer Verurteilung zur Verfügung stehende persönliche Raum mindestens 3 m² betrage.

Das Oberlan­des­gericht erklärte die Auslieferung des Beschwer­de­führers zu 2. für zulässig, ohne eine Antwort der rumänischen Behörden auf die Nachfrage der General­staats­an­walt­schaft abzuwarten. Das Vorliegen einer echten Gefahr menschen­rechts­widriger Haftbedingungen könne im konkreten Einzelfall ausgeschlossen werden. In Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten seien die Justizbehörden des ersuchten Mitgliedstaats nicht verpflichtet, die Haftbedingungen auch in Haftanstalten, in denen der Beschwer­de­führer gegebenenfalls später inhaftiert werden könnte, zu überprüfen.

Die Beschwer­de­führer rügen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Wesentliche Erwägungen des Senats

Die zulässigen Verfas­sungs­be­schwerden sind begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwer­de­führer jeweils in ihrem Grundrecht aus Art. 4 GRCh.

1. Der Rechtsstreit der Ausgangs­ver­fahren betrifft eine unionsrechtlich vollständig determinierte Materie. Die Grundrechte des Grundgesetzes kommen deshalb nicht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab zur Anwendung. Maßgeblich sind die Unions­grund­rechte, wie sie insbesondere in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Ausdruck gefunden haben. Bei der Auslegung der Unions­grund­rechte sind sowohl die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte konkretisierten Konven­ti­o­ns­rechte als auch die von den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten ausgeformten mitglied­s­taat­lichen Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfas­sungs­über­lie­fe­rungen ergeben, heranzuziehen.

2. Das mit einem Überstel­lungs­er­suchen befasste Gericht muss in einem durch einen Europäischen Haftbefehl eingeleiteten Überstel­lungs­ver­fahren nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union prüfen, ob für den zu Überstellenden eine konkrete Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden. Dies ist durch das zuständige Fachgericht in zwei Prüfungs­schritten von Amts wegen aufzuklären.

Im ersten, die allgemeine Haftsituation betreffenden Schritt ist das Gericht verpflichtet, anhand objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zu prüfen, ob es in Bezug auf die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstel­lungs­mit­glied­staats systemische oder allgemeine Mängel gibt.

In einem zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Schritt muss das Gericht genau prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Überstellung an den Ausstel­lungs­mit­gliedstaat aufgrund der Haftbedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird. Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation und muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen, konkret zu erwartenden Haftbedingungen beruhen.

Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemein­schafts­zellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m², zwischen 3 m² und 4 m² oder über 4 m² liegt.

Liegt der persönliche Raum in einer Gemein­schaftszelle unter 3 m², begründet dies eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK.

Verfügt ein Gefangener in einer Gemein­schaftszelle über einen persönlichen Raum, der zwischen 3 m² und 4 m² beträgt, kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK vorliegen, wenn zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, eine zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygie­ne­be­din­gungen.

Bei mehr als 4 m² persönlichem Raum in einer Gemein­schaftszelle bleiben die weiteren Aspekte der Haftbedingungen für die erforderliche Gesamt­be­ur­teilung relevant.

3. Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklä­rungs­pflichten des mit einem Überstel­lungs­er­suchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist.

Das Gericht muss den Ausstel­lungs­mit­gliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Der Ausstel­lungs­mit­gliedstaat ist verpflichtet, diese Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Fristen zu übermitteln. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Überg­a­be­ver­fahren zu beenden ist.

4. Diese vom Gerichtshof der Europäischen Union bei der Auslegung des Art. 4 GRCh angewandten Maßstäbe decken sich mit Art. 1 Abs. 1 GG sowohl hinsichtlich der Minde­st­an­for­de­rungen an Haftbedingungen im ersuchenden Staat als auch hinsichtlich der damit verbundenen Aufklä­rungs­pflichten des mit dem Überstel­lungs­er­suchen befassten Gerichts. Eine unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründete Begrenzung des Anwen­dungs­vorrangs des Unionsrechts im Rahmen der Identi­täts­kon­trolle ist deshalb im vorliegenden Zusammenhang nicht veranlasst.

5. Nach diesen Maßstäben halten die angegriffenen Entscheidungen einer verfas­sungs­recht­lichen Prüfung nicht stand, weil sie die Bedeutung und Tragweite von Art. 4 GRCh und die damit verbundenen Aufklä­rungs­pflichten nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt haben.

a) Das Kammergericht hat die im zweiten Prüfungsschritt erforderliche Gesamtabwägung der maßgeblichen Haftbedingungen nur unzureichend durchgeführt.

Das bloße Abstellen auf die mitgeteilte Mindest­haf­traumgröße von 3 m² pro Person ist für die erforderliche Gesamtwürdigung der Haftbedingungen nicht ausreichend, weil der dem Inhaftierten zur Verfügung stehende persönliche Raum zwar ein bedeutender, aber nicht der alleinige Faktor für deren Bewertung ist. Auch bei einem persönlichen Raum in einer Gemein­schaftszelle von 3 m² beziehungsweise zwischen 3 m² und 4 m² können erniedrigende und unmenschliche Haftbedingungen im Sinne von Art. 4 GRCh vorliegen, wenn zum Raummangel noch weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten. Das Kammergericht war aufgrund seiner Aufklä­rungs­pflichten deshalb verpflichtet, zusätzliche Informationen über die weiteren Haftbedingungen bei den rumänischen Behörden anzufordern. Das Gericht hat seine Prüfung ferner zu Unrecht auf die ersten beiden Vollzugsregime (Quarantäne und geschlossener Vollzug) beschränkt. Bei der erforderlichen Gesamtwürdigung der Haftbedingungen hätte das Kammergericht berücksichtigen müssen, dass bei einer hinreichend wahrschein­lichen Überstellung in den halboffenen Vollzug eine dauerhafte Unterbringung in einer Gemein­schaftszelle mit einem persönlichen Raum von nur 2 m² mit Art. 4 GRCh unvereinbar ist.

b) Das Oberlan­des­gericht Celle ist seiner Aufklä­rungs­pflicht nach Art. 4 GRCh auf der zweiten Prüfungsstufe ebenfalls nicht nachgekommen.

Die General­staats­an­walt­schaft hatte aufgrund der problematischen Haftbedingungen zusätzliche Informationen von den rumänischen Behörden angefordert sowie diese zur Abgabe einer konkreten Zusicherung für den Strafvollzug im Falle einer Verurteilung des Beschwer­de­führers zu 2. aufgefordert. Eine Antwort der rumänischen Behörden auf das zweite Infor­ma­ti­o­ns­schreiben der General­staats­an­walt­schaft stand noch aus. Deshalb war das Oberlan­des­gericht verpflichtet, den rumänischen Behörden eine konkrete Frist für die Übermittlung der angeforderten zusätzlichen Informationen zu setzen und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Überstellung bis zum Eingang einer Antwort zurückzustellen. Wäre dies nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt, hätte das Oberlan­des­gericht darüber entscheiden müssen, ob das Überstel­lungs­ver­fahren hätte beendet werden müssen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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