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Bundesverfassungsgericht Urteil07.10.2014
Verfassungsbeschwerden in Sachen Optionskommunen nur zum geringen Teil erfolgreichBVerfG zur rechtlichen Stellung sogenannter Optionskommunen nach der Einfügung von Art. 91e in das Grundgesetz und dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 3. August 2010
Die im Jahr 2010 eingeführten Regelungen zur Rechtsstellung der sogenannten Optionskommunen sind im Wesentlichen verfassungsgemäß. Mit Art. 91e GG hat der verfassungsändernde Gesetzgeber eine umfassende Sonderregelung für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende geschaffen. Er hat unmittelbare Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Optionskommunen begründet und in diesem Rahmen auch eine Finanzkontrolle ermöglicht. Darüber hinaus enthält Art. 91e GG einen umfassenden Gesetzgebungsauftrag zugunsten des Bundes. Er kann das Zulassungsverfahren weitgehend frei ausgestalten. Jedoch fehlt dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für eine Regelung, die die interne Willensbildung der Kommunen für einen Zulassungsantrag an eine Zwei-Drittel-Mehrheit bindet. Die entsprechende Vorschrift darf ab sofort nicht mehr angewendet werden; bestehende Zulassungen bleiben jedoch in Kraft. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung bekanntgegeben.
Die von 15 Landkreisen und einer Stadt erhobenen Kommunalverfassungsbeschwerden betreffen die rechtliche Stellung der sogenannten Optionskommunen nach der Neuregelung des Jahres 2010.
Die Beschwerdeführer wenden sich gegen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs - Zweites Buch (SGB II), namentlich gegen
- § 6 a Abs. 2 Satz 3 SGB II, soweit dieser das Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit in der zuständigen Vertretungskörperschaft für die Stellung eines Antrags auf Zulassung als Optionskommune festlegt,
- § 6 a Abs. 2 Satz 4 SGB II, soweit dieser die Anzahl der insgesamt zuzulassenden Optionskommunen auf 25 % der möglichen Aufgabenträger begrenzt,
- § 6 b Abs. 3 SGB II, soweit dieser dem Bundesrechnungshof die Finanzkontrolle über die Optionskommunen gestattet, und § 6 b Abs. 4 SGB II, soweit dieser dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales Prüfbefugnisse gegenüber den Optionskommunen einräumt.
Verfassungsbeschwerden gegen Prüfungsbefugnisse im Wesentlichen zulässig
1. Die Verfassungsbeschwerden sind im Wesentlichen zulässig. Jedoch ist die Jahresfrist nicht eingehalten, soweit sich eine der Verfassungsbeschwerden gegen die Prüfungsbefugnisse des Bundesrechnungshofs richtet. Die maßgebliche Vorschrift (§ 6 b Abs. 3 Sozialgesetzbuch II - SGB II) ist bereits seit 2004 unverändert in Kraft.
Verfassungsbeschwerde gegen Bindung an Zwei-Drittel-Mehrheit begründet
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen § 6 a Abs. 2 Satz 3 SGB II, der den Antrag auf Zulassung als Optionskommune an eine Zwei-Drittel-Mehrheit im zuständigen kommunalen Gremium bindet, ist begründet. Im Übrigen sind die Verfassungsbeschwerden unbegründet.
Umfassende Sonderregelung vom verfassungsändernden Gesetzgeber geschaffen
a) aa) Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mit Art. 91e GG für das Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine umfassende Sonderregelung geschaffen. Er hat auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007 reagiert, das die Zusammenarbeit von Arbeitsagenturen und Kommunen in gemeinsamen Einrichtungen für verfassungswidrig erklärt hatte. Mit der Neuregelung sollte der im politischen Raum für praktikabel befundene Zustand aufrechterhalten und verfassungsrechtlich abgesichert werden.
Kein Verstoß gegen "Ewigkeitsgarantie"
Zwar durchbricht Art. 91e Abs. 1 GG das grundsätzliche Verbot der Mischverwaltung, das vom Bundesverfassungsgericht auch mit dem Argument des Demokratieprinzips untermauert worden ist. Denn eine Verflechtung von Verwaltungszuständigkeiten kann dazu führen, dass der Auftrag des Wählers auf Bundes- oder Landesebene durch die Mitwirkung anderer Ebenen relativiert und konterkariert wird. Auch das Rechtsstaatsprinzip verlangt im Interesse des effektiven Rechtsschutzes eine klare Zuordnung von Kompetenzen. Ein absolutes Verbot der Mischverwaltung lässt sich jedoch weder aus dem Demokratie- noch aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten; daher verstößt Art. 91e GG nicht gegen die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG.
Umfassende Absicherung der Verwaltungspraxis soll ermöglicht werden
In seinem Anwendungsbereich verdrängt Art. 91e GG die allgemeinen Regelungen über den Vollzug von Bundesgesetzen (Art. 83 ff. GG) und über die Finanzierung von Verwaltungsaufgaben (Art. 104a GG). Der verfassungsändernde Gesetzgeber wollte offenkundig keine Regelung schaffen, die sich möglichst schonend in die allgemeinen Strukturen einfügt, sondern eine umfassende Absicherung der Verwaltungspraxis ermöglichen. Das zeigt auch die Regelung zur Kostentragung (Art. 91e Abs. 2 Satz 2 GG), die zu einer direkten Finanzierung kommunalen Verwaltungshandelns durch den Bund führt.
Punktuelle Durchbrechung der Zweistufigkeit des Staatsaufbaus
bb) Art. 91e Abs. 2 GG begründet unmittelbare Verwaltungs- und Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Optionskommunen. Die Gemeinden sind jedoch grundsätzlich den Ländern zugeordnet. Daher durchbricht die Vorschrift, wenn auch nur punktuell, die Zweistufigkeit des Staatsaufbaus. Art. 91e Abs. 2 GG ermöglicht dem Bund eine effektive Finanzkontrolle, die sich von der staatlichen Aufsicht wie auch von den Befugnissen des Bundesrechnungshofs unterscheidet.
Gemeinden und Gemeindeverbände können alleinverantwortlich Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende wahrnehmen
cc) Art. 91e Abs. 2 GG räumt den Gemeinden und Gemeindeverbänden eine Chance ein, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als kommunale Träger alleinverantwortlich wahrzunehmen. Wie bereits aus der Formulierung deutlich wird, dass der Bund eine begrenzte Anzahl von Gemeinden und Gemeindeverbänden zulassen „kann“, wird damit kein Anspruch begründet. Eröffnet der Gesetzgeber den Gemeinden und Gemeindeverbänden diese Chance jedoch, so ist er bei deren Ausgestaltung grundsätzlich frei. Das interkommunale Gleichbehandlungsgebot verbietet es allerdings, einzelne Gemeinden oder Gemeindeverbände aufgrund sachlich nicht vertretbarer Differenzierungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen.
Wahrnehmung der Chance fällt in den Schutzbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie
dd) Die Wahrnehmung der Chance auf Zulassung als Optionskommune fällt in den Schutzbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG). Gemeinden und Gemeindeverbände können sich gegenüber dem Staat auf das interkommunale Gleichbehandlungsgebot berufen und seine Verletzung vor dem Bundesverfassungsgericht rügen.
ee) Art. 91e Abs. 3 GG enthält einen umfassenden und weit zu verstehenden Gesetzgebungsauftrag zugunsten des Bundes für alle Rechtsverhältnisse, die mit der Zulassung von Optionskommunen verbunden sind.
b) Die Verfassungsbeschwerde gegen § 6 a Abs. 2 Satz 3 SGB II ist begründet.
aa) Mit der Kommunalverfassungsbeschwerde kann gerügt werden, dass ein Bundesgesetz gegen die Gesetzgebungskompetenz der Länder (Art. 70 GG) verstößt, denn die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen ist für das verfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung mitbestimmend.
Vorschrift der Zwei-Drittel-Mehrheit verkürzt Organisationshoheit der Gemeinden
bb) § 6 a Abs. 2 Satz 3 SGB II bestimmt, dass der Antrag auf Zulassung als Optionskommune einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder in der zuständigen Vertretungskörperschaft bedarf. Die Vorschrift verkürzt damit die Organisationshoheit der Gemeinden und greift dadurch in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie ein. Verglichen mit den allgemeinen Regelungen des Kommunalrechts erschwert sie die Willensbildung in den Stadträten und Kreistagen. Im Fall des beschwerdeführenden Landkreises Roth kam eine Realisierung der gesetzlich eröffneten Chance daher schon deshalb nicht in Betracht, weil sich nur 36 von 60 Mitgliedern für den Antrag ausgesprochen hatten.
Verletzung der Gesetzgebungszuständigkeiten durch § 6 a Abs. 2 Satz 3 SGB II
cc) § 6 a Abs. 2 Satz 3 SGB II verletzt die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Die interne Willensbildung in den Kommunen und das Zusammenwirken zwischen ihren Organen ist Teil des Kommunalrechts. Wäre dies anders, könnte der Bund in allen Bereichen, in denen er eine Gesetzgebungskompetenz besitzt, auch Vorgaben zur Willensbildung erlassen; die den Ländern zustehende Gesetzgebungskompetenz für das Kommunalrecht liefe insoweit leer.
Auch die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) vermag die angegriffene Regelung nicht zu stützen. Zwar ist der Begriff „öffentliche Fürsorge“ nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weit auszulegen und erfasst auch organisatorische Vorschriften. Die hier angegriffene Vorschrift regelt jedoch keine organisatorische Frage bei der Erbringung sozialrechtlicher Leistungen, sondern die Art und Weise der Willensbildung in den Kommunen.
Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich auch nicht aus Art. 91e Abs. 3 GG. Auf dieser Grundlage kann der Gesetzgeber zwar die Voraussetzungen für die Zulassung von Optionskommunen regeln, insbesondere deren Anzahl sowie die Zulassungskriterien. Die angegriffene Vorschrift betrifft jedoch nicht die Rechtsverhältnisse zwischen der antragstellenden Kommune und dem Bund oder dem Land, sondern die interne Organisation der Kommunen.
§ 6 a Abs. 2 Satz 3 1. Halbsatz SGB II in neuen Zulassungsverfahren nicht mehr anwendbar
dd) § 6 a Abs. 2 Satz 3 1. Halbsatz SGB II ist für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären. Die Vorschrift gilt für bestehende Zulassungen fort. Allerdings darf sie in neuen Zulassungsverfahren nicht mehr angewandt werden. Würde die Vorschrift für nichtig erklärt, könnten die zugelassenen Optionskommunen ihre Aufgaben ab sofort nicht mehr einheitlich wahrnehmen. Hiervon wären eine hohe Zahl von Leistungsempfängern und die Mitarbeiter der Kommunen betroffen. Ohne die Aufrechterhaltung der Regelung für die Vergangenheit wäre es daher nicht möglich, eine geordnete Sozialverwaltung sicherzustellen.
Keine verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 6 a Abs. 2 Satz 4 SGB II
c) Gegen § 6 a Abs. 2 Satz 4 SGB II, der die Anzahl der Optionskommunen auf höchstens 25 % der zum 31. Dezember 2010 bestehenden Aufgabenträger festlegt, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
aa) Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus Art. 91e Abs. 3 GG. Inhaltlich geben Art. 91e Abs. 1 und Abs. 2 GG ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vor: Die Aufgabenwahrnehmung in gemeinsamen Einrichtungen soll danach die Regel sein, die alleinige Aufgabenwahrnehmung durch Optionskommunen die Ausnahme. Dies belegen der Wortlaut des Art. 91e Abs. 2 GG, seine systematische Stellung und seine Entstehungsgeschichte. Im Übrigen verfügt der Gesetzgeber jedoch über einen weiten Gestaltungsspielraum.
Keine konkrete Anzahlung von Optionskommunen aus Art. 91e Abs. 2 GG ableitbar
bb) Aus dem Wortlaut des Art. 91e Abs. 2 GG lässt sich namentlich keine konkrete Anzahl möglicher Optionskommunen ableiten. Mit der Festlegung auf 25 % hat der Gesetzgeber lediglich die im Rahmen der Verfassungsänderung avisierte Zielgröße übernommen und den politischen Erwartungen der Beteiligten Rechnung getragen. Verfassungsrechtlich verpflichtet war er dazu nicht.
Grundsicherung für Arbeitssuchende keine Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft
cc) § 6 a Abs. 2 Satz 4 SGB II bedarf auch keiner verfassungskonformen Auslegung im Lichte von Art. 28 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist keine Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft, die der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) unterfiele. Es handelt sich vielmehr um eine Aufgabe, die normalerweise bundeseinheitlich von der Bundesagentur für Arbeit wahrgenommen wird. Auch die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeindeverbände (Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG), die von vornherein nur nach Maßgabe der Gesetze besteht, wird nicht verletzt. Die Zuweisung einer neuen Aufgabe könnte nur verlangt werden, wenn sonst die Selbstverwaltungsgarantie in ihrem Kern entwertet wäre, was offensichtlich nicht der Fall ist.
Gesetzgeber muss transparente und nachvollziehbare Verteilungs- und Zulassungsentscheidung sicherstellen
dd) Eröffnet der Gesetzgeber den Kommunen die Chance auf eine bestimmte Aufgabenzuständigkeit, so muss er ein Verfahren vorsehen, das eine transparente und nachvollziehbare Verteilungs- und Zulassungsentscheidung sicherstellt. Der Gesetzgeber musste dieses Verfahren in seinen wesentlichen Grundzügen selbst ausgestalten (vgl. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG); die Einzelheiten durfte er dem Verordnungsgeber überlassen. § 6 a Abs. 3 SGB II ist insoweit eine hinreichende Rechtsgrundlage.
Ob das in der Kommunalträger-Eignungsfeststellungsverordnung (KtEfV) geregelte Verteilungsverfahren selbst den Anforderungen an ein willkürfreies, transparentes und nachvollziehbares Zulassungsverfahren genügt, ob es insbesondere nicht bundesrechtlicher Regelungen über die Verteilung der möglichen Optionskommunen auf die Länderkontingente bedarf, ist hier nicht zu entscheiden. Denn die insoweit möglicherweise unzureichende Verordnung ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
Befugnisse des Bundes unterscheiden sich von denen des Bundesrechnungshofes
d) Schließlich begegnet § 6 b Abs. 4 SGB II, der die Finanzkontrolle durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales regelt, keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Gesetzgebungskompetenz für diese Vorschrift folgt ebenfalls aus Art. 91e Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 GG. Die damit verbundenen Befugnisse des Bundes unterscheiden sich von denen des Bundesrechnungshofes und beschränken sich auf die fiskalischen Interessen des Bundes. Ihm ist insbesondere gestattet, öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche geltend zu machen und im Wege der Verrechnung durchzusetzen. Eine Rechts- oder Fachaufsicht ist damit nicht verbunden; die dem Bund eröffnete Finanzkontrolle richtet sich nicht allgemein auf die Gewährleistung eines einheitlichen Gesetzesvollzugs und erlaubt es daher nicht, vertretbare Rechtsauffassungen des zugelassenen kommunalen Trägers zu beanstanden.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 09.10.2014
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online
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