21.11.2024
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Dokument-Nr. 33202

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Bundesverfassungsgericht Beschluss09.08.2023

Verstoß gegen das Arznei­mit­tel­gesetz in 14.564 Fällen - Erfolglose Verfassungs­beschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung im sogenannten „Apotheker“-VerfahrenKeine Grundrechte des Verurteilten verletzt

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Verfassungs­beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich der Beschwer­de­führer gegen seine Verurteilung durch das Landgericht Essen unter anderem wegen Verstoßes gegen das Arznei­mit­tel­gesetz in 14.564 Fällen sowie gegen die Verwerfung seiner Revision durch den Bundes­ge­richtshof wendet. Die Verurteilung des Beschwer­de­führers stellt keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar. Auch eine anderweitige Grundrechts­verletzung ist nicht dargetan oder ersichtlich.

Der Beschwer­de­führer war Inhaber einer Apotheke, die patien­ten­in­di­vi­duelle Arznei­mit­tel­zu­be­rei­tungen für die Krebstherapie herstellte und an onkologische Arztpraxen und Krankenhäuser lieferte. Zwischen Januar 2012 und November 2016 stellte er in 14.564 Fällen unterdosierte Arzneimittel her, die er auslieferte und unter anderem bei den gesetzlichen Krankenkassen monatsweise unter Vorgabe einer ordnungsgemäßen Dosierung abrechnete. Dabei nahm er die unterdosierten Zubereitungen ganz überwiegend eigenhändig vor. In Einzelfällen wurden die unterdosierten Arzneimittel aber auch durch ausgewählte Mitarbeiter „auf Veranlassung oder Anweisung und mit zumindest generellem Wissen und Billigung“ des Beschwer­de­führers hergestellt. Durch das verord­nungs­widrige und heimliche Einsparen von Wirkstoffen wollte er den Gewinn der Apotheke steigern, um seinen privaten Finanzbedarf zu decken.

Schwierigkeiten bei Feststellung der Unterdosierung

Das Landgericht Essen verurteilte den Beschwer­de­führer im Juli 2018 unter anderem wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arznei­mit­tel­gesetz in 14.564 Fällen zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von 12 Jahren. Zugleich ordnete die Kammer ein lebenslanges Berufsverbot und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 17 Millionen Euro an. In Hinblick auf 14.498 ausgelieferte Zubereitungen vermochte das LG die Unterdosierung nur rechenweise festzustellen. So stellte es 25 Wirkstoffe fest, bei denen die eingekaufte Wirkstoffmenge nicht für die im Tatzeitraum hergestellten Zubereitungen ausreichen konnte. Insgesamt bereitete der Beschwer­de­führer im Tatzeitraum 28.285 Arzneimittel – mit (mindestens) einem dieser Wirkstoffe – zu. Hiervon enthielten 14.498 Arznei­mit­tel­zu­be­rei­tungen überhaupt keinen Wirkstoff. Das LG verurteilte den Beschwer­de­führer in allen nachgewiesenen Fällen als Täter. In Hinblick auf 14.498 Fälle ging das LG dabei von einer gleichartigen Wahlfest­stellung aus. Die dagegen gerichtete Revision als auch die Verfassungsbeschwerde blieben erfolglos.

Wahlfest­stellung mit Schuldgrundsatz vereinbar

Die Verfas­sungs­be­schwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annah­me­vor­aus­set­zungen des § 93 a Abs. 2 Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­gesetz (BVerfGG) nicht erfüllt sind. Die Verurteilung des Beschwer­de­führers stellt keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar, und auch eine anderweitige Grundrechtsverletzung ist nicht dargetan oder ersichtlich. Das Strafrecht beruht auf dem im Verfassungsrang stehenden Schuldgrundsatz. Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt auf dem Gebiet der Straf­rechts­pflege die Auffassung vom Wesen der Strafe und dem Verhältnis von Schuld und Sühne. Daraus folgt der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt. Der Schuldgrundsatz ist zugleich im Rechts­s­taats­prinzip als eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes verankert. Es sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechts­si­cherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt. Das Rechts­s­taats­prinzip umfasst als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit und schließt den Grundsatz der Rechts­gleichheit als ein grundlegendes Gerech­tig­keits­postulat ein. Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechts­s­taat­lichen Anliegen in dem Grundsatz aufgenommen, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt wird. Dem ist durch verfah­rens­rechtliche Vorkehrungen Rechnung zu tragen; Tat und Schuld müssen dem Täter prozess­ord­nungsgemäß nachgewiesen werden. Dabei sind die Feststellungen straf­recht­licher Schuld und die Auslegung der in Betracht kommenden Vorschriften in erster Linie Sache der Strafgerichte. Der Beschwer­de­führer zeigt eine sich an diesen Maßstäben orientierende Verletzung des Schuld­grund­satzes nicht auf. Die richter­recht­lichen Grundsätze zur Wahlfest­stellung sind mit Schuldgrundsatz vereinbar. Die aus dem Rechts­s­taats­prinzip folgende Idee materieller Gerechtigkeit verlangt die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zur Sicherung einer am Rechts­gü­ter­schutz orientierten Straf­rechts­pflege, wenn die Schuld des Angeklagten mit Gewissheit feststeht und sich die Zweifel allein auf Tatsachenfragen beziehen. Die vom Landgericht vorgenommene gleichartige Wahlfest­stellung ist nicht zu beanstanden. Die Strafkammer konnte auch nach Ausschöpfung der Aufklä­rungs­mög­lich­keiten nicht sicher feststellen, bei welchen 14.498 der insgesamt 28.285 hergestellten Arznei­mit­tel­zu­be­rei­tungen eine Unterdosierung erfolgte. So steht nur fest, dass und wie viele Unter­do­sie­rungen es bei den Zubereitungen mit dem jeweiligen Wirkstoff mindestens gegeben hatte. Zu den 28.285 Arznei­mit­tel­zu­be­rei­tungen hat das Landgericht hinreichende Feststellungen getroffen, um die abgeurteilten Fälle ohne Schwierigkeiten von anderen Lebens­sach­ver­halten abzugrenzen, sodass die Gefahr einer Mehrfach­ver­folgung ausgeschlossen ist. Die Verurteilung des Beschwer­de­führers als Täter auch in den Fällen, in denen die Medikamente nicht durch ihn selbst, sondern nach seinen Vorgaben durch Mitarbeiter hergestellt wurden, begegnet keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Die Strafkammer hat die zur Begründung der mittelbaren Täterschaft in Gestalt der Organi­sa­ti­o­ns­herr­schaft erforderlichen Tatsachen festgestellt. Dass sie keine weitergehenden Feststellungen zu der konkreten Veranlassung oder Anweisung getroffen hat, begegnet in Hinblick auf den Schuldgrundsatz keinen Bedenken. Denn das Landgericht hat ausreichende Feststellungen zur organi­sa­to­rischen Hoheit und dem Motiv des Beschwer­de­führers getroffen; beides lässt in hinreichendem Maße auf eine vom Täterwillen getragene Tatherrschaft schließen. Die angegriffenen Entscheidungen halten sich auch im Rahmen zulässiger richterlicher Rechts­fort­bildung und verletzen den Beschwer­de­führer nicht in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG. Weder hat der Beschwer­de­führer dargelegt noch ist sonst erkennbar, dass die Fachgerichte in die Kompetenzen des Gesetzgebers eingegriffen hätten.

Auch keine Verletzung des Bestimmt­heits­gebots ersichtlich

Soweit der Beschwer­de­führer in der Sache einen Verstoß gegen das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG rügt, ist eine Grund­rechts­ver­letzung ebenfalls nicht ersichtlich. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmt­heitsgebot sowie ein damit korre­spon­die­rendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot straf­be­grün­dender Analogie. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbe­stands­aus­weitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen kann immer nur der Gesetzestext sein. Den Strafgerichten ist es mithin nicht erlaubt, eine Strafbestimmung über ihren eindeutigen, einer Auslegung nicht zugänglichen Wortlaut hinaus allein im Blick auf den Normzweck anzuwenden; dies verstieße gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG festge­schriebene Analogieverbot im Strafrecht. Eine sich an diesen Maßstäben orientierende Rechts­ver­letzung hat der Beschwer­de­führer nicht dargetan. Die Auslegung des § 25 Abs. 1 Alt. 2 Strafgesetzbuch durch die Fachgerichte begegnet nach den vorstehenden Maßstäben keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Die Annahme einer Wahlfest­stellung verletzt den Beschwer­de­führer nicht in Art. 103 Abs. 2 GG. Die hierin verbürgten Garantien werden durch die Grundsätze der Wahlfest­stellung nicht berührt, weil diese nicht straf­ba­r­keits­be­gründend wirken. Die Regeln greifen nicht korrigierend in die Entscheidung des Gesetzgebers über strafwürdiges Verhalten ein. Das Rechtsinstitut der Wahlfest­stellung kommt vielmehr in einer bestimmten prozessualen Lage zur Anwendung, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung zwar über den konkreten Gesche­hens­ablauf Zweifel bestehen, aber sicher feststeht, dass sich der Angeklagte – nach einem bestimmten oder einem von mehreren bestimmten Tatbeständen – strafbar gemacht hat.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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