18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.09.2010

Verstoß gegen das Beschleu­ni­gungsgebot: Haftbefehl verfas­sungs­widrigVerletzung des Freiheits­grund­rechts und des Rechts auf faires Strafverfahren

Ein Haftbefehl kann bei einer über zweieinhalb Jahre dauernden Haupt­ver­handlung wegen Verstoßes gegen das Beschleu­ni­gungsgebot als verfas­sungs­widrig angesehen werden. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht und nahm eine in diesem Zusammenhang gestellte Verfas­sungs­be­schwerde an, da es den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht und seinem Recht auf ein faires Strafverfahren verletzt sah.

Der Beschwer­de­führer befand sich seit Mitte Juni 2005 wegen des Verdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäu­bungs­mitteln in nicht geringer Menge in Untersuchungshaft. Am 31. Oktober 2005 begann die Haupt­ver­handlung vor dem Landgericht. Eine Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Fortdauer der Unter­su­chungshaft nahm das Bundes­ver­fas­sungs­gericht durch Beschluss vom 19. September 2007 nicht zur Entscheidung an, wies aber darauf hin, dass das Landgericht künftig vermehrt verhandeln müsse, um dem Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen; monatlich durch­schnittlich an acht Tagen ganztägig zu verhandeln, sei nicht unzumutbar. Ende Mai 2008 verurteilte das Landgericht den Beschwer­de­führer nach 88 Haupt­ver­hand­lungstagen wegen drei der insgesamt 14 angeklagten Verstöße gegen das Betäu­bungs­mit­tel­gesetz zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von neun Jahren und ordnete an, dass davon ein Jahr und zehn Monate wegen rechts­s­taats­widriger Verfah­rens­ver­zö­gerung als vollstreckt gelten. Hinsichtlich der übrigen 11 Tatvorwürfe wurde das Verfahren wegen der insoweit zu erwartenden umfangreichen Beweisaufnahme und angesichts der Geschäfts­be­lastung der Kammer mit Beschluss vom gleichen Tag abgetrennt und ausgesetzt. Nachdem der Bundes­ge­richtshof das Urteil des Landgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen hatte, hob das Landgericht den Haftbefehl Ende August 2009 auf, weil die Fortdauer der Unter­su­chungshaft nicht mehr verhältnismäßig sei. Der Beschwer­de­führer wurde am gleichen Tag aus der Haft entlassen. Nach Verbindung des abgetrennten Verfahrens wurde für den 18. Dezember 2009 erneut ein Haupt­ver­hand­lungs­termin anberaumt, zu dem der Beschwer­de­führer, der mittlerweile aufgrund einer Abschie­be­a­n­ordnung nach Albanien ausgereist war, nicht erschien. Das Landgericht erließ daraufhin einen erneuten Haftbefehl gegen den Beschwer­de­führer, gestützt auf sämtliche angeklagten 14 Tatvorwürfe. Das Oberlan­des­gericht verwarf die hiergegen eingelegte Haftbeschwerde.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht hebt Haftent­schei­dungen des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts auf

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde zur Entscheidung angenommen und die angegriffenen Haftent­schei­dungen des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts aufgehoben, weil sie den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht und seinem Recht auf ein faires Strafverfahren verletzen.

LG und OLG lassen gebotene Abwägung hinsichtlich der Freiheits­grund­rechte nicht erkennen

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Weder das Landgericht noch das Oberlan­des­gericht lassen bei der Prüfung der Verhält­nis­mä­ßigkeit des weiteren Vollzugs der Unter­su­chungshaft die gebotene Abwägung mit dem Freiheits­grundrecht des Beschwer­de­führers erkennen. Das in dem Grundrecht auf persönliche Freiheit verfas­sungs­rechtlich verankerte Beschleu­ni­gungsgebot in Haftsachen hat zur Folge, dass die Unter­su­chungshaft zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der späteren Straf­voll­streckung grundsätzlich nicht mehr als notwendig erachtet werden kann, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare und nicht von dem Beschuldigten zu vertretende Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen verursacht ist.

Haupt­ver­handlung ist trotz Hinweises des BVerfG ersichtlich zu wenig gefördert worden

Die Gerichte haben sich hinsichtlich der erneuten Anordnung der Unter­su­chungshaft mit der hier vorliegenden Verletzung des Beschleu­ni­gungs­gebots nicht ausein­an­der­gesetzt. Das Verfahren ist nach Beginn der Haupt­ver­handlung trotz des Hinweises des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zur Anzahl der monatlichen Verhand­lungstage ersichtlich zu wenig gefördert worden. Während der über zweieinhalb Jahre dauernden Haupt­ver­handlung wurde durch­schnittlich weniger als an einem Tag pro Woche verhandelt, ohne dass stichhaltige Recht­fer­ti­gungs­gründe ersichtlich sind. Das verfas­sungs­rechtliche Beschleu­ni­gungsgebot in Haftsachen fordert aber stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Haupt­ver­hand­lungs­planung mit mehr als nur einem durch­schnitt­lichen Haupt­ver­hand­lungstag pro Woche. Zudem trat in Bezug auf die 11 noch nicht abgeurteilten Taten jedenfalls 15 Monate lang, nämlich von der Abtrennung dieses Verfahrens Anfang Juni 2008 bis zum Beginn der erneuten Planung des gesamten Verfahrens Ende August 2009, ein völliger Verfah­rens­stillstand ein, während dessen der Beschwer­de­führer sich weiterhin in Unter­su­chungshaft befand.

Freiheits­grundrecht des Beschwer­de­führers wurde nicht genügend Gewicht beigemessen

Vor diesem Hintergrund und angesichts der bereits erlittenen Unter­su­chungshaft von über vier Jahren und zwei Monaten hat das Landgericht beim Neuerlass des Haftbefehls dem Freiheits­grundrecht des Beschwer­de­führers nicht genügend Gewicht beigemessen. Die erneute Anordnung der Unter­su­chungshaft rechtfertigt sich nicht durch die Verurteilung zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von neun Jahren und das Gewicht der 11 noch nicht abgeurteilten Taten bzw. die aus beidem folgende Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe. Das Beschleu­ni­gungsgebot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstin­sta­nz­lichen Urteils, sondern gilt für das gesamte Strafverfahren. Allein die Schwere der Taten und die sich daraus ergebende Straferwartung können jedenfalls bei erheblichen vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen nicht zur weiteren Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Unter­su­chungshaft herangezogen werden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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