18.10.2024
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Dokument-Nr. 20907

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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.03.2015

Unterbringung eines vollständig entkleideten Strafgefangenen in video­über­wachter Zelle verletzt allgemeines Persönlich­keits­rechtWegnahme der Kleidung als besondere Siche­rungs­maßnahme im Strafvollzug unterliegt strengen Verhältnis­mäßig­keits­anforderungen

Die Unterbringung eines vollständig entkleideten Strafgefangenen über mehr als einen Tag in einer durchgängig video­über­wachten Zelle ist mit dessen allgemeinem Persönlich­keits­recht unvereinbar. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht. Darüber hinaus darf ein Gericht vor dem Hintergrund des Gebots effektiven Rechtsschutzes seiner Entscheidung nicht ohne weiteres die vom Strafgefangenen bestrittenen Ausführungen der Justiz­vollzugs­anstalt zugrunde legen, sondern hat alle verfügbaren Erkennt­nis­mittel auszuschöpfen, um den Sachverhalt festzustellen.

Der Beschwer­de­führer war im Jahr 2010 in der Abteilung für psychisch auffällige Gefangene in der Justizvollzugsanstalt Kassel I untergebracht. Nachdem die Justiz­voll­zugs­anstalt die für den 8. September 2010 vorgesehene Behandlung in der Zahna­rzt­sprech­stunde nicht gewährleisten konnte, begann der Beschwer­de­führer gegen seine Haftraumtür zu schlagen und zu treten. Im weiteren Verlauf wurde er unter Anlegung von Handfesseln in einen besonders gesicherten Haftraum mit durchgehender Kamera­über­wachung verbracht und dort nach Entfernung der Handfesseln vollständig entkleidet. Erst am nächsten Tag erhielt er eine Hose und eine Decke aus schnell reißendem Material. Am 10. September 2010 wurde er in seinen Haftraum zurückverlegt.

Beschwer­de­führer rügt Haftbedingungen

In seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung führte der Beschwer­de­führer aus, dass bei der Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum durch zwei Bedienstete der Justiz­voll­zugs­anstalt ihm gegenüber Gewalt angewendet worden sei, so dass er große Schmerzen erlitten habe. In der Zelle sei es kühl gewesen. Die Toilet­ten­spülung habe nicht funktioniert und es habe auch kein Toilettenpapier gegeben. Er habe nicht einschlafen können, weil er gefroren habe. Seine Aktion sei gewaltlos gewesen und er habe sich ohne Gegenwehr festnehmen lassen.

Justiz­voll­zugs­anstalt hielt weniger einschneidende Maßnahmen aufgrund einer befürchteten Eigengefährdung des Beschwer­de­führers für nicht möglich

Demgegenüber führte die Justiz­voll­zugs­anstalt aus, dass der Beschwer­de­führer - wie bereits bei einem ähnlichen Vorfall im Juni 2010 - lautstark gegen die Zellentür getrommelt habe und nicht zu beruhigen gewesen sei. Bei der Verlegung in den besonders gesicherten Haftraum habe er massive Gegenwehr geleistet. Mit angelegten Handfesseln und unter Anwendung des Fesselgriffs sei er in den besonders gesicherten Haftraum geführt worden. Der Haftraum sei dauerhaft beheizt gewesen. Die Darlegungen des Beschwer­de­führers hinsichtlich mangelnder Toilet­ten­funktion und fehlendem Toilettenpapier entsprächen nicht den Tatsachen. Weniger einschneidende Maßnahmen als die Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum seien wegen der befürchteten Eigengefährdung nicht in Betracht gekommen. Zum Ausschluss von Selbst­ver­let­zungen durch Kleidungsstücke sei der Beschwer­de­führer vor der Unterbringung vollständig entkleidet worden.

LG und OLG verwerfen Antrag des Beschwer­de­führers als unbegründet

Mit angegriffenem Beschluss vom 12. Juni 2012 wies das Landgericht Kassel den Antrag als unbegründet zurück. Das Oberlan­des­gericht Frankfurt am Main verwarf die hiergegen erhobene Rechts­be­schwerde mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 26. Februar 2013 als unzulässig. Eine Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung sei weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten.

Entscheidung des Landgerichts verkennt allgemeines Persön­lich­keitsrecht des Beschwer­de­führers

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte sind, aber der verfas­sungs­recht­lichen Prüfung daraufhin unterliegen, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen. Soweit der Beschluss des Landgerichts die Entscheidung der Justiz­voll­zugs­anstalt, den Beschwer­de­führer einen Tag lang vollständig entkleidet in einer durchgängig video­über­wachten Zelle unterzubringen, als rechtmäßig bestätigt, lässt er eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts des Beschwer­de­führers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG erkennen.

Gefangenem muss zur Wahrung der Intimsphäre Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung gestellt werden

Die Zulässigkeit besonderer Siche­rungs­maß­nahmen richtet sich vorliegend nach dem - in Hessen bis 31. Oktober 2010 gültigen - § 88 des Straf­voll­zugs­ge­setzes des Bundes. Im Zusammenhang mit der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum (§ 88 Abs. 1, Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 5 StVollzG) kann auch die Wegnahme einzelner Kleidungsstücke zur Abwendung erheblicher Gefahren für den Gefangenen, insbesondere Suizid, gerechtfertigt sein (§ 88 Abs. 1, Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 StVollzG). Dabei erfordert jedoch die Erheblichkeit des Eingriffs und der verfas­sungs­rechtlich gebotene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich, dem Gefangenen mit der Entkleidung Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung zu stellen, um ihm ein Mindestmaß an Intimsphäre zu bewahren und ihn nicht zum bloßen Objekt des Strafvollzuges zu degradieren.

Gefahr der Selbst­ver­letzung wurde durch Justiz­voll­zugs­anstalt in keiner Weise konkretisiert

Das Landgericht hat die Unterbringung des vollständig entkleideten Beschwer­de­führers in einer durchgängig video­über­wachten Zelle als zulässig erachtet und dabei festgestellt, dass die allgemeinen Erwägungen der Justiz­voll­zugs­anstalt hinsichtlich der Erfor­der­lichkeit der Anordnung besonderer Siche­rungs­maß­nahmen (Gewalt­tä­tig­keiten gegen die Zellen­ein­richtung und damit verbundene Selbst­ver­let­zungen) auch ihre Entscheidung für die vollständige Entkleidung des Beschwer­de­führers trügen. Die Justiz­voll­zugs­anstalt hatte die den Entzug der Kleidungsstücke allein rechtfertigende Gefahr der Selbst­ver­letzung allerdings inhaltlich in keiner Weise konkretisiert. Damit verkennt das Landgericht bereits, dass bei einer kumulativen Anordnung einzelner Siche­rungs­maß­nahmen die Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme detailliert zu begründen ist. Ebenso hat das Landgericht verkannt, dass bereits die Entkleidung eines Gefangenen aufgrund einer lediglich abstrakt festgestellten, aus randalierendem Verhalten gefolgerten Gefahr nicht von der Ermäch­ti­gungs­grundlage des § 88 Abs. 1, Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 StVollzG gedeckt sein kann. Auch die Bestätigung der Maßnahme als rechtmäßig, obwohl dem Beschwer­de­führer keine Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung gestellt wurde, verdeutlicht die grundsätzliche Verkennung der Bedeutung der durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Intimsphäre des Beschwer­de­führers durch das Landgericht.

Landgericht hätte Angaben des Beschwer­de­führers über Bedingungen seiner Unterbringung prüfen müssen

Soweit der Beschluss des Landgerichts die Art und Weise seiner Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum und die konkrete Ausgestaltung seiner Unterbringung als rechtmäßig bestätigt, ist der Beschwer­de­führer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Insoweit beruht die Entscheidung auf unzureichender Aufklärung des entschei­dungs­er­heb­lichen Sachverhalts. Der Beschwer­de­führer hat in seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vor dem Landgericht detailliert vorgetragen, unter welchen Umständen er von zwei Bediensteten in den besonders gesicherten Haftraum verbracht worden sei und welche erheblichen Mängel dieser aufgewiesen habe. Aufgrund dieser Angaben hätte das Landgericht Nachforschungen anstellen müssen, um dem nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz gerecht zu werden.

Landgericht hätte für Feststellung des Sachverhalts alle verfügbaren Erkennt­nis­mittel ausschöpfen müssen

Wird - wie vorliegend - die Sachver­halts­dar­stellung der Justiz­voll­zugs­anstalt vom Gefangenen unter Angabe konkreter Tatsachen bestritten, so darf das Gericht seiner Entscheidung nicht ohne weiteres die Ausführungen der Anstalt zugrunde legen. Die Annahme, es könne ohne weitere Sachver­halts­auf­klärung von der Richtigkeit der behördlichen Darstellung ausgegangen werden, bedarf konkreter, auf die Umstände des Falles bezogener Gründe. Derartige Gründe hat das Landgericht weder ausgeführt, noch sind sie sonst ersichtlich. Insbesondere war das der Darstellung der Justiz­voll­zugs­anstalt widersprechende Vorbringen des Beschwer­de­führers nicht offensichtlich abwegig. Das Landgericht hätte alle verfügbaren Erkennt­nis­mittel ausschöpfen müssen, um den Sachverhalt festzustellen. Es hat aber weder den Beschwer­de­führer, die mit ihm unmittelbar befassten Vollzugs­be­diensteten, noch die ihn untersuchende Ärztin persönlich angehört, um sich einen Eindruck von den Vorgängen zu verschaffen. Zudem wäre in Betracht gekommen, die staats­an­walt­schaft­lichen Ermitt­lungsakten sowie die die Dienst­auf­sichts­be­schwerde betreffenden Akten beizuziehen.

OLG-Beschluss verletzt Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz

Der Beschluss des Oberlan­des­ge­richts, mit dem die Rechts­be­schwerde des Beschwer­de­führers trotz der ins Auge springenden Grund­rechts­ver­let­zungen als unzulässig verworfen wird, verletzt den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

Die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts werden daher aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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