14.11.2024
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Dokument-Nr. 944

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Bundesverfassungsgericht Beschluss02.09.2005

Keine einstweilige Anordnung gegen Verlust der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit

Die 1. Kammer des Zweiten Senats hat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, mit dem die Antragstellerin sich – auch mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl – gegen eine Regelung des deutschen Staats­an­ge­hö­rig­keits­rechts über den Verlust der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit wandte.

Die in Deutschland lebende Antragstellerin (Ast) wurde nach Entlassung aus der türkischen Staats­an­ge­hö­rigkeit im Juni 1999 in den deutschen Staatsverband eingebürgert. Im Juli 1999 beantragte sie den Wiedererwerb der türkischen Staats­an­ge­hö­rigkeit, die ihr im Februar 2001 erneut verliehen wurde.

Gemäß § 25 Absatz 1 des Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­setzes (StAG) in der seit dem 1. Januar 2000 geltenden Fassung verliert ein Deutscher grundsätzlich seine Staats­an­ge­hö­rigkeit, wenn er auf seinen Antrag eine ausländische Staats­an­ge­hö­rigkeit erwirbt. Nach der zuvor geltenden Gesetzesfassung trat der Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlust nur unter der weiteren Voraussetzung ein, dass der Betroffene seinen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Ausland hatte. Diese so genannte Inlandsklausel wurde durch das Gesetz zur Reform des Staats­an­ge­hö­rig­keits­rechts vom 15. Juli 1999 mit Wirkung zum 1. Januar 2000 gestrichen. Schätzungen zufolge ist von dieser Geset­ze­s­än­derung eine große Zahl in Deutschland lebender und hier eingebürgerter Personen betroffen, die nach der hiesigen Einbürgerung ihre frühere ausländische Staats­an­ge­hö­rigkeit auf Antrag zurück erworben haben.

Die Ast, die die Neuregelung unter anderem wegen des Fehlens einer Überg­angs­re­gelung für verfas­sungs­widrig hält, hat beim Verwal­tungs­gericht eine Klage auf Feststellung ihrer deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Im Hinblick auf die am 18. September 2005 anstehenden Wahlen zum Deutschen Bundestag hat sie beim Verwal­tungs­gericht überdies beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass sie die Voraussetzung zur Teilnahme an der Bundestagswahl hinsichtlich der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit erfülle. Das Verwal­tungs­gericht hat den Eilrechts­schutz­antrag abgelehnt. Mit ihrem beim Bundes­ver­fas­sungs­gericht gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verfolgt die Ast ihr Begehren weiter.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die gebotene Folgenabwägung ergibt jedenfalls nicht das erforderliche Überwiegen der Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich aber eine in der Hauptsache erhobene Verfas­sungs­be­schwerde später als begründet, wäre der Ast bis dahin die Behandlung als deutsche Staats­an­ge­hörige zu Unrecht vorenthalten worden; die aus der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit folgenden Rechte hätte sie vorläufig nicht wahrnehmen können. Als konkret drohender Nachteil ist insoweit vor allem zu berücksichtigen, dass ihr die Ausübung des Wahlrechts bei der auf den 18. September 2005 angesetzten Bundestagswahl versagt bliebe, obwohl sie gemäß § 12 Absatz 1 Bundes­wahl­gesetz wahlberechtigt wäre. Weitere konkrete und gewichtige Nachteile, die bereits in näherer Zukunft eintreten könnten, sind weder geltend gemacht noch ersichtlich. Vor allem ist der weitere Aufenthalt der Ast gesichert.

Erginge die einstweilige Anordnung, bliebe der Ast aber in der Hauptsache der Erfolg versagt, so würde sie vorläufig zu Unrecht weiter als deutsche Staats­an­ge­hörige behandelt. Vor allem könnte sie bei den Wahlen zum 16. Deutschen Bundestag das Wahlrecht ausüben, obwohl ihr dieses in Wahrheit nicht zustünde.

Die Nachteile im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl wögen in beiden Fällen gleich schwer: Es käme jeweils zu einem Wahlfehler, der im Wahlprü­fungs­ver­fahren geltend gemacht werden könnte, zur Ungültigkeit der Wahl indes nur bei Mandat­s­er­heb­lichkeit führen würde. An diesem "Bewertungspatt" ändert sich auch dann nichts, wenn man bei der Einschätzung der jeweils drohenden Nachteile nicht allein den Fall der Ast berücksichtigt, sondern auch die Folgen in den Blick nimmt, die sich bei gleicher Behandlung anderer, möglicherweise zahlreicher, gleich­ge­la­gerter Fälle ergeben.

Stehen somit die jeweiligen Nachteile der abzuwägenden Folge­kon­stel­la­tionen einander in etwa gleichgewichtig gegenüber, gebietet es die gegenüber der Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers notwendige Zurückhaltung des Gerichts, die Anwendung der mittelbar angegriffenen Vorschrift nicht zu hindern, bevor geklärt ist, ob sie vor der Verfassung Bestand hat.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 81/2005 des BVerfG vom 07.09.2005

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