18.10.2024
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Dokument-Nr. 23385

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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.09.2016

BVerfG erklärt Strafvorschrift im Rindfleisch­etikettierungs­gesetz für verfas­sungs­widrigSankti­o­nie­rungen bei Verstößen gegen unions­rechtliche Vorgaben in Blankett­straf­gesetz nicht hinreichend klar erkennbar

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Strafvorschrift in § 10 Abs. 1 und 3 Rindfleisch­etikettierungs­gesetz (RiFlEtikettG) mit den verfassungs­rechtlichen Bestimmtheits­anforderungen (Art. 103 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG sowie Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) unvereinbar und nichtig. Zwar darf der Gesetzgeber die Beschreibung eines Straf­tat­be­standes durch Verweisung auf eine andere Vorschrift ersetzen (Blankett­straf­gesetz). Die Verweisung in § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG lässt jedoch nicht hinreichend klar erkennen, welche Verstöße gegen unions­rechtliche Vorgaben sanktioniert werden sollen.

Mit Urteil vom 31. Mai 2012 verurteilte das Amtsgericht Tiergarten den geständigen Angeklagten des Ausgangs­ver­fahrens wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Rindflei­sche­ti­ket­tie­rungs­gesetz zu einer Geldstrafe. Das Landgericht Berlin hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage der Verfas­sungs­mä­ßigkeit von § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG zur Entscheidung vorgelegt (Art. 100 Abs. 1 GG). Es hält die Strafvorschrift wegen Verstoßes gegen die Bestimmt­heits­an­for­de­rungen (Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) für eine unzulässige Blankett­strafnorm.

Tat kann nur bei tatsächlich gesetzlich bestimmter Strafbarkeit bestraft werden

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht verwies in seiner Entscheidung darauf, dass Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dadurch soll zum einen sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheidet. Zum anderen hat Art. 103 Abs. 2 GG auch eine freiheits­ge­währ­leistende Funktion. Jeder Teilnehmer am Rechtsverkehr soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist.

Gesetzgeber hat selbst Voraussetzungen der Strafbarkeit zu bestimmen

In seiner Funktion als Bestimmt­heitsgebot enthält Art. 103 Abs. 2 GG die Verpflichtung, wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parla­men­ta­rischen Willens­bil­dungs­prozess zu klären. Der Gesetzgeber hat selbst die Voraussetzungen der Strafbarkeit zu bestimmen und darf diese Entscheidung nicht den Organen der vollziehenden Gewalt überlassen. Eine Strafnorm muss so gefasst werden, dass der Normadressat im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen kann, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht. Allerdings schließt das Bestimmt­heitsgebot die Verwendung unbestimmter, konkre­ti­sie­rungs­be­dürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln nicht aus. Auch darf der Gesetzgeber auf andere Vorschriften verweisen und muss den Tatbestand nicht stets vollständig im förmlichen Gesetz umschreiben. Verweist der Gesetzgeber auf andere Vorschriften in ihrer jeweils geltenden Fassung (dynamische Verweisung), kann dies jedoch dazu führen, dass er den Inhalt seiner Vorschriften nicht mehr in eigener Verantwortung bestimmt und damit der Entscheidung Dritter überlässt. Damit sind dynamische Verweisungen zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, aber nur in dem Rahmen zulässig, den die Prinzipien der Rechts­s­taat­lichkeit, der Demokratie und der Bundess­taat­lichkeit ziehen.

Blankett­straf­gesetz muss Voraussetzungen der Strafbarkeit hinreichend klar beschreiben

Bei einem Blankett­straf­gesetz ersetzt der Gesetzgeber die Beschreibung des Straf­tat­be­standes durch die Verweisung auf eine Ergänzung im selben Gesetz oder in anderen - auch künftigen - Gesetzen oder Rechts­ver­ord­nungen. Die Verwendung dieser Gesetz­ge­bungs­technik ist verfas­sungs­rechtlich unbedenklich, sofern das Blankett­straf­gesetz hinreichend klar erkennen lässt, worauf sich die Verweisung bezieht. Das gilt auch für Blankett­straf­gesetze, die Zuwider­hand­lungen gegen bestimmte Verbote oder Gebote eines unmittelbar anwendbaren Rechtsakts der Europäischen Union bewehren und zu diesem Zweck auf das Unionsrecht verweisen. Dem Bestimmt­heitsgebot genügen Blankett­straf­gesetze jedoch nur dann, wenn sich die möglichen Fälle der Strafbarkeit schon aufgrund des Gesetzes voraussehen lassen. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe müssen also bereits entweder im Blankett­straf­gesetz selbst oder in einem in Bezug genommenen Gesetz hinreichend deutlich umschrieben sein. Legt die Blankett­strafnorm nicht vollständig fest, welches Verhalten durch sie bewehrt werden soll, sondern erfolgt dies erst durch eine nationale Rechts­ver­ordnung, auf die verwiesen wird, müssen daher die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aufgrund des Gesetzes und nicht erst aufgrund der hierauf gestützten Rechts­ver­ordnung vorhersehbar sein. Um den Grundsatz der Gewaltenteilung zu wahren, darf dem Verord­nungsgeber lediglich die Konkretisierung des Straf­tat­be­standes eingeräumt werden, nicht aber die Entscheidung darüber, welches Verhalten als Straftat geahndet werden soll.

Blankett­strafnorm erfüllt im vorliegenden Fall Bestimmt­heits­an­for­de­rungen nicht

Diesen Bestimmt­heits­an­for­de­rungen (Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) wird § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG nicht gerecht. § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG ist eine Blankett­strafnorm, die die Strafandrohung nach Art und Maß der Strafe regelt, den Straftatbestand aber lediglich als Zuwiderhandlung gegen eine unmittelbar geltende Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft skizziert und dessen genaue Beschreibung letztlich durch die über § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG erfolgende Verweisung auf Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft über die Etikettierung von Rindfleisch und durch den Verweis auf die nach § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG ergangene Rechts­ver­ordnung ersetzt. § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG lässt jedoch auch in Verbindung mit § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG nicht hinreichend klar erkennen, welche Verstöße gegen unions­rechtliche Vorgaben sanktioniert werden sollen. Anstatt selbst oder durch Verweis auf ein anderes Gesetz festzulegen, welches Verhalten mit Strafe bewehrt werden soll, überlässt § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG es dem Bundes­mi­nis­terium, durch Rechts­ver­ordnung die Tatbestände zu bezeichnen, die als Straftat zu ahnden sind.

Ermäch­ti­gungsnorm hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein

§ 10 Abs. 3 RiFlEtikettG genügt darüber hinaus auch nicht den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. Gesetze, die zum Erlass von Rechts­ver­ord­nungen ermächtigen, müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG). Danach soll sich das Parlament seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entäußern können, dass es einen Teil der Gesetz­ge­bungsmacht der Exekutive überträgt. Die Ermäch­ti­gungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein; sie hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein.

BVerfG rügt unzulässige pauschale Blankoer­mäch­tigung

§ 10 Abs. 3 RiFlEtikettG fehlt es - auch in Verbindung mit § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG - an einer gesetz­ge­be­rischen Entscheidung zu Inhalt und Programm der erteilten Ermächtigung zum Erlass einer Rechts­ver­ordnung. Es ist weder erkennbar noch vorhersehbar, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz der Verord­nungsgeber von dieser Ermächtigung Gebrauch machen wird und welchen Inhalt die aufgrund der Ermächtigung erlassene Verordnung haben kann. Es handelt sich daher um eine unzulässige pauschale Blankoer­mäch­tigung zur Schaffung von Straf­tat­be­ständen bei Verstößen gegen gemein­schafts­rechtliche Regelungen zur Rindflei­sche­ti­ket­tierung.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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