23.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss13.02.2008

Bundes­ver­fas­sungs­gericht streicht Obergrenzen für steuerlichen Abzug von Kranken­ver­si­che­rungs­bei­trägenSonder­aus­ga­be­nabzug von Versi­che­rungs­bei­trägen muss existenz­not­wendigen Aufwand des Steuer­pflichtigen berücksichtigen

Die Beiträge zur privaten Kranken­ver­si­cherung müssen in naher Zukunft in höherem Umfang von der Einkommensteuer absetzbar sein als bisher. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Bis Ende 2009 muss der Gesetzgeber die Abzugsfähigkeit von Beiträgen zur privaten Kranken- und Pflege­ver­si­cherung neu regeln. Der Entscheidung lag die Klage eines Rechtsanwalts und seiner nicht berufstätigen Frau zugrunde. Das Ehepaar und seine sechs Kinder waren ausschließlich privat kranken- und pflege­ver­sichert.

Nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Abs. 3 Einkom­men­steu­er­gesetz in der für das Streitjahr 1997 geltenden Fassung wird die Möglichkeit des Sonder­aus­ga­be­n­abzugs von Beiträgen zur privaten Krankenversicherung betragsmäßig beschränkt. Der Bundesfinanzhof hält diese Beschränkung für verfassungswidrig, weil die gesetzlichen Höchstbeträge dem Steuer­pflichtigen nicht ermöglichten, in angemessenem Umfang Kranken­ver­si­che­rungs­schutz zu erlangen. Daher legte er die Frage dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht vor. Der Vorlage liegt der Fall eines freiberuflich tätigen Rechtsanwalts und seiner nicht berufstätigen Ehefrau zugrunde, die Eltern von sechs Kindern sind. Sämtliche Famili­en­mit­glieder waren 1997 privat kranken- und pflege­ver­sichert. Die Beiträge beliefen sich auf 36.032,47 DM. In ihrer Einkom­men­steu­e­r­er­klärung 1997 machten sie insgesamt Vorsor­ge­auf­wen­dungen von ca. 66.000 DM geltend, darunter die genannten Kranken- und Pflege­ver­si­che­rungs­beiträge. Der vom Finanzamt unter Hinweis auf § 10 Abs. 3 EStG insgesamt zum Abzug zugelassene Betrag belief sich jedoch nur auf 19.830 DM.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte fest, dass § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Abs. 3 EStG sowie alle nachfolgenden Fassungen mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, soweit der Sonder­aus­ga­be­nabzug die Beiträge zu einer privaten Krank­heits­kos­ten­ver­si­cherung und einer privaten Pflege­ver­si­cherung nicht ausreichend erfasst, die dem Umfang nach erforderlich sind, um dem Steuer­pflichtigen und seiner Familie eine sozia­l­hil­fe­gleiche Kranken- und Pflege­ver­sorgung zu gewährleisten. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens mit Wirkung zum 1. Januar 2010 eine Neuregelung zu treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt bleiben die betreffenden einkom­men­steu­er­recht­lichen Vorschriften sowie die Nachfol­ge­re­ge­lungen weiter anwendbar.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Abs. 3 EStG in der für den Veran­la­gungs­zeitraum 1997 geltenden Fassung verletzt nicht im Hinblick darauf den allgemeinen Gleichheitssatz, dass der Vorwegabzug, der Selbstständigen für ihre Beiträge zu privaten Kranken- und Pflege­pflicht­ver­si­che­rungen gewährt wird, hinter den entsprechenden Beträgen der Zukunfts­si­che­rungs­leis­tungen des Arbeitgebers für Arbeitnehmer (insbesondere Arbeit­ge­ber­beiträge zur Sozia­l­ver­si­cherung) nach § 3 Nr. 62 Satz 1 EStG zurückbleibt.

Die Beiträge der Mitglieder der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung dienen nicht allein der Absicherung ihres eigenen Krank­heits­risikos, sondern zugleich dem sozialen Ausgleich und der Umverteilung. Neben der Entkoppelung der Beitragshöhe vom versicherten Krank­heits­risiko ist auch das Leistungsniveau weitgehend unabhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge. Die Bemessung der Beiträge zu einer privaten Kranken­ver­si­cherung bestimmt sich dagegen nach dem versicherten Risiko. Bei privaten Kranken­ver­si­che­rungs­bei­trägen kann daher davon ausgegangen werden, dass einem höheren Beitrag ein höherer Vorteil des Beitragszahlers entspricht. Vor dem Hintergrund dieser wesentlichen Syste­mun­ter­schiede hat der Gesetzgeber mit der Bestimmung der Höhe des Vorwegabzugs einerseits und der Ausgestaltung der Kürzungs­re­gelung für sozia­l­ver­si­che­rungs­pflichtige Arbeitnehmer andererseits seinen Gestal­tungs­spielraum nicht überschritten. Der Vorwegabzug gewährt der Höhe nach eine zwar nicht vollständige, aber doch spürbare Entlastung der Kranken- und Pflege­ver­si­che­rungs­beiträge von Steuer­pflichtigen und trägt damit dem Kompen­sa­ti­o­ns­be­dürfnis in einer offenkundig nicht willkürlichen Weise Rechnung.

II. Die Regelung des § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Abs. 3 EStG in der für den Veran­la­gungs­zeitraum 1997 geltenden Fassung ist jedoch mit dem Grundgesetz unvereinbar, soweit die Beiträge zu einer privaten Krank­heits­kos­ten­ver­si­cherung und einer privaten Pflege­pflicht­ver­si­cherung nicht ausreichend erfasst werden, die dem Umfang nach erforderlich sind, um dem Steuer­pflichtigen und seiner Familie eine sozia­l­hil­fe­gleiche Kranken- und Pflege­ver­sorgung zu gewährleisten. Dies trifft auch für die nachfolgenden Geset­zes­fas­sungen zu.

1. Nach dem Prinzip der Steuerfreiheit des Existenz­mi­nimums hat der Staat das Einkommen des Bürgers insoweit steuerfrei zu stellen, als dieser es zur Schaffung der Mindest­vor­aus­set­zungen eines menschen­würdigen Daseins für sich und seine Familie benötigt. gewährleistet wird ein Schutz des Lebensstandards auf Sozia­l­hil­fe­niveau. Das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenz­mi­nimums schützt nicht nur das sogenannte sächliche Existenzminimum (z. B. Aufwendungen für Nahrung, Kleidung, Hausrat, Wohnung und Heizung). Auch Beiträge zu privaten Versicherungen für den Krankheits- und Pflegefall können Teile des einkom­men­steu­er­rechtlich zu verschonenden Existenz­mi­nimums sein; denn auch die Kranken- und Pflege­ver­sorgung ist integraler Bestandteil des Leistungs­ka­talogs der Sozialhilfe.

2. Eine dem Umfang nach hinreichende steuerliche Freistellung der zur Sicherung des Existenz­mi­nimums erforderlichen Beiträge zur privaten Kranken und Pflege­ver­si­cherung durch § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Abs. 3 EStG kann nicht festgestellt werden. Betrachtet man - im Rahmen einer Evidenz­kon­trolle - beispielhaft die von den Klägern des Ausgangs­ver­fahrens aufgewendeten Beiträge, so zeigt sich, dass eine hinreichende steuerliche Entlastung offensichtlich nicht gewährleistet ist.

Der Gesetzgeber hat die in § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG angelegte Entlas­tungs­grun­d­ent­scheidung in den Höchstbeträgen des § 10 Abs. 3 EStG für die Krank­heits­kos­ten­ver­si­cherung bezogen auf das Ziel einer reali­täts­ge­rechten Freistellung des Existenz­mi­nimums nicht folgerichtig umgesetzt. Zwar ist der Steuer­ge­setzgeber nicht gehalten, die Beiträge zu "normalen" privaten Krank­heits­kos­ten­ver­si­che­rungen von Verfassungs wegen stets zu 100 % zu berücksichtigen. Vielmehr müssen nur die zur Erlangung eines sozia­l­hil­fe­gleichen Lebensstandards erforderlichen Aufwendungen berücksichtigt werden. Der Gesetzgeber kann die Privat­ver­si­cherten daher darauf verweisen, dass ein Teil ihrer Beiträge bei der Einkommensteuer unberück­sichtigt bleibt, soweit nach seiner Einschätzung das Versor­gungs­niveau von privaten Kranken­ver­si­che­rungen üblicherweise über das wiederum an das Niveau der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung angekoppelte Sozia­l­hil­fe­niveau hinausgeht. Der Gesetzgeber hat eine von derartigen Erwägungen getragene und an entsprechenden Einschätzungen orientierte Entscheidung jedoch ersichtlich nicht getroffen. Derselbe Mangel an folgerichtiger Ausgestaltung ist auch im Hinblick auf die Beiträge zur privaten Pflege­pflicht­ver­si­cherung festzustellen. Schließlich gilt auch für die Krank­heits­kos­ten­ver­si­che­rungen der Kinder nichts anderes, da für diese eine Entlastung in § 10 EStG überhaupt nicht vorgesehen ist.

Die in § 10 Abs. 3 EStG für Beiträge zu privaten Kranken- und Pflege­pflicht­ver­si­che­rungen niedergelegten Höchstbeträge sind auch nicht aus legitimen Erwägungen einer gesetz­ge­be­rischen Typisierung im Massenverfahren gerechtfertigt. Eine Typisie­rungs­ent­scheidung, die nachvollziehbar an den existenz­not­wendigen Kranken- und Pflege­ver­si­che­rungs­auf­wen­dungen der Steuer­pflichtigen ausgerichtet ist, hat der Gesetzgeber bisher nicht getroffen.

3. Der Gesetzgeber hat bei der Neuordnung des Abzugs von Sonderausgaben klarzustellen, welcher Anteil eines Höchstbetrags ausschließlich oder vorrangig für existenz­not­wendige Kranken- und Pflege­ver­si­che­rungs­beiträge zur Verfügung steht. Er hat auch die Anforderungen an eine folgerichtige steuer­rechtliche Verschonung des Existenz­mi­nimums der gesetzlich kranken- und pflege­ver­si­cherten Steuer­pflichtigen zu beachten und dabei zu berücksichtigen, inwieweit das Leistungsniveau dieser Sozia­l­ver­si­che­rungs­zweige dem der Sozialhilfe beziehungsweise der Grundsicherung für Arbeitsuchende angenähert ist.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 32/08 des BVerfG vom 13.02.2008

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