21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil09.07.2007

Klage von Union und FDP gegen Bundeshaushalt 2004 erfolglosTrotz Neuverschuldung von 40 Mio € keine Verfas­sungs­wid­rigkeit des rot-grünen Haushalts

Der Normen­kon­trol­lantrag von 293 Abgeordneten des 15. Deutschen Bundestages (CDU/CSU- und FDP-Bundes­tags­fraktion) gegen den Bundeshaushalt 2004 war ohne Erfolg. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte fest, dass die beanstandeten Regelungen des Haushalts­ge­setzes 2004 sowie des Nachtrags­haus­halts­ge­setzes 2004 den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen entsprachen. Die Richter Di Fabio und Mellinghoff sowie der Richter Landau haben der Entscheidung eine abweichende Stellungnahme angefügt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. § 1 Haushaltsgesetz 2004 in der Fassung des Nachtrags­haus­halts­ge­setzes 2004 ist mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Es kann offen bleiben, ob der Grundsatz der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach der Hauhaltsplan vor Beginn des ersten Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird, auf die Einbringung eines Nachtrags­haushalts entsprechend anwendbar ist; denn der Bundesregierung ist die späte Einbringung des Nachtrags­haushalts 2004 jedenfalls nicht als eine Verletzung verfas­sungs­recht­licher Pflichten vorzuwerfen.

Für die Maßstäbe rechtzeitiger Einbringung eines Nachtrags­haus­halts­ge­setzes des Bundes gelten die allgemeinen Grundsätze zu den Anforderungen an die gebotene gegenseitige Rücksichtnahme zwischen Verfas­sungs­organen. Daher ist eine späte Einbringung des Entwurfs eines Nachtrags­haushalts nicht schon ohne weiteres als pflichtwidrig zu werten. Maßgeblich ist vielmehr, wieweit der späte Zeitpunkt der Einbringung einerseits zu konkreten Beein­träch­ti­gungen des parla­men­ta­rischen Budgetrechts führt und andererseits die Regierung hinreichende sachliche Gründe für diesen späten Zeitpunkt anführen kann. Konkrete erhebliche Beein­träch­ti­gungen der Rechte des Parlaments durch die Einbringung des Nachtrags­haushalts erst im Oktober 2004 sind nicht festzustellen:

Die Ansätze im Zusammenhang mit der zeitlichen Verschiebung von "Hartz IV" bargen keine politisch gewichtigen eigenständigen Entscheidungen, sondern enthielten den Nachvollzug der Entscheidungen der Sachge­setz­gebung und verursachten in ihrer Summe keine bedeutenden Veränderungen der Gesamteinnahmen und -ausgaben. Haushalts­po­litisch stärker ins Gewicht fallen die Korrekturen des Bundes­bank­gewinns in Höhe von mehr als 3 Mrd. €. für die Bewertung einer Beein­träch­tigung der Rechte des Bundestages ist zu berücksichtigen, dass die Entscheidung der Bundesregierung für einen späteren Zeitpunkt der Vorlage eines Nachtrags­haushalts nicht nur dem Mehrheitswillen im Parlament entsprach. Die Regierung konnte für ihre Entscheidung auch tragfähige sachliche Gründe in Anspruch nehmen: Angesichts des Beginns der parla­men­ta­rischen Sommerpause im Juli wäre die Erarbeitung von Regie­rungs­vorlagen mit den von den Opposi­ti­o­ns­frak­tionen im Mai des Jahres geforderten umfassenden Änderungen sowohl des Haushalts­ge­setzes als auch verschiedener Sachgesetze schon aus zeitlichen Gründen äußerst schwierig zu bewältigen gewesen. Insbesondere die erfahrungsgemäß mit den jeweiligen Steuer­schät­zungen verbundenen Unsicherheiten legten es nicht nahe, sofort auf die neuesten Schät­zungs­er­gebnisse vom Mai 2004 mit Haushalts­an­pas­sungen zu reagieren; sie begründeten eher ein sachliches Argument dafür, zunächst die weitere Entwicklung der Steuereinnahmen abzuwarten. Betrachtet man vor diesem Hintergrund das weitere Verfahren, so sind pflichtwidrige Verzögerungen seitens der Bundesregierung nicht festzustellen: In den ersten Sitzungen nach der parla­men­ta­rischen Sommerpause wurde der Haushalt­s­entwurf 2005 beraten und im Oktober der Nachtrags­haushalt 2004.

II. Auch § 1 Haushaltsgesetz 2004 in seiner ursprünglichen Fassung entsprach den haushalts­ver­fas­sungs­recht­lichen Anforderungen.

Der Ansatz des Anteils des Bundes am Reingewinn der Bundesbank des Jahres 2003 war mit dem Verfas­sungsgebot der Haushalts­wahrheit (Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar. Aus diesem Gebot folgt die Pflicht zur Schätz­ge­nau­igkeit mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Budget­funk­tionen im parla­men­ta­rischen Regie­rungs­system - Leitung, Kontrolle und Transparenz durch Öffentlichkeit der staatlichen Tätigkeit - zu gewährleisten. Die für die Einnahmen- und Ausga­ben­schät­zungen erforderlichen Prognosen müssen aus der Sicht ex ante sachgerecht und vertretbar ausfallen. Die Veranschlagung des erwarteten Bundes­bank­gewinns mit 3,5 Mrd. € im Entwurf des Haushalts­ge­setzes 2004 a.F. beruhte auf den Erfahrungen der vergangenen Jahre. Entspricht der Ansatz im Haushaltsgesetz 2004 einem langjährigen Erfahrungswert, kommt eine Pflicht­ver­letzung der Bundesregierung nur dann in Betracht, wenn zum fraglichen Zeitpunkt handfeste Indizien für eine wesentlich geänderte Gewinnsituation der Deutschen Bundesbank erkennbar waren. Dies war weder zum Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs im August 2003 noch zu einem späteren Zeitpunkt bis zur Annahme des Geset­ze­s­entwurfs im Deutschen Bundestag im November 2003 der Fall. Auch während des Vermitt­lungs­ver­fahrens lagen keine verlässlichen Informationen zur Gewinnsituation der Bundesbank vor. Im März 2004, also nach Verkündung des Haushalts­ge­setzes 2004, gab der Bundes­bank­prä­sident vor dem Haushalts­aus­schuss des Bundestages lediglich die pauschale Erklärung ab, der Bundes­bank­gewinn 2003 liege "deutlich unter 3,5 Mrd. €". Vor dem Hintergrund dieser sachan­ge­messenen infor­ma­ti­o­nellen Zurückhaltung sind Pflicht­ver­let­zungen der am Gesetz­ge­bungs­ver­fahren beteiligten Organe nicht erkennbar.

Auch die Etatansätze im Zusammenhang mit "Hartz IV" sind mit dem Verfas­sungsgebot der Vollständigkeit und Wahrheit vereinbar, obwohl mit Beginn des Vermitt­lungs­ver­fahrens zum Haushaltsgesetz 2004 bereits sicher war, dass die Ansätze wegen der Verschiebung des Inkrafttretens von "Hartz IV" auf den 1. Januar 2005 "falsch" waren. Insbesondere das fehlende eigenständige Gewicht der hier betroffenen Haushalts­ansätze, die umfassende Information des Parlaments über die insoweit maßgeblichen Alternativen und die praktische Möglichkeit, die Änderungen im Haushalts­vollzug angemessen zu berücksichtigen, berechtigte die Bundesregierung gerade auch angesichts des vorgerückten Standes des Gesetz­ge­bungs­ver­fahrens, der grundsätzlichen Differenzen zwischen Bundestag und Bundesrat sowie absehbaren weiteren Korrek­tur­bedarfs, auf eine weitere zeitliche Verzögerung durch Vorbereitung und Beratung einer Ergän­zungs­vorlage zu verzichten und die notwendigen Korrekturen einem späteren Nachtrags­haus­halts­ver­fahren zuzuordnen.

III. § 2 Abs. 1 Haushaltsgesetz 2004 in der Fassung des Nachtrags­haus­halts­ge­setzes 2004 war mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG, vereinbar.

1. Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG begrenzt die Kreditaufnahme auf die Höhe der Ausgaben für Investitionen. Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamt­wirt­schaft­lichen Gleichgewichts. Zum allgemeinen Regelungsgehalt und zu den Tatbe­stands­merkmalen dieser Verfassungsnorm hat der Senat in seinem Urteil vom 18. April 1989 (BVerfGE 79, 311) grundlegend Stellung genommen. Es besteht kein Anlass, von den dort entwickelten Maßstäben abzurücken.

Schon im Jahr 1989 hat der Senat darauf hingewiesen, dass die Kompetenz für eine mögliche Revision des Regelungs­konzepts der Art. 115 Abs. 1 Satz 2 und Art. 109 Abs. 2 GG beim verfas­sung­s­än­dernden Gesetzgeber, nicht beim Bundes­ver­fas­sungs­gericht liegt. An diesem Grundsatz ist festzuhalten. Freilich ist an der Revisi­ons­be­dürf­tigkeit der geltenden verfas­sungs­recht­lichen Regelungen gegenwärtig kaum noch zu zweifeln. Die staatliche Verschul­dungs­politik in der Bundesrepublik hat in den seit der Finanz- und Haushaltsreform 1967/69 vergangenen nahezu vier Jahrzehnten praktisch durchgehend einseitig zur Vermehrung der Schulden beigetragen. Das Regelungs­konzept des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG hat sich als verfas­sungs­recht­liches Instrument rationaler Steuerung und Begrenzung staatlicher Schuldenpolitik in der Realität nicht als wirksam erwiesen. Notwendig ist die Entwicklung von Mechanismen, die für gegebene Verschul­dungs­spielräume den erforderlichen Ausgleich über mehrere Haushaltsjahre sicherstellen. Die Auswahl und Insti­tu­ti­o­na­li­sierung von Regeln, die dies leisten und dabei in geeigneter Weise dem Anreiz zur Verschiebung von Ausgleichs­lasten auf nachfolgende Legislaturen entgegenwirken, ist eine komplexe Aufgabe, für deren Lösung das geltende Verfas­sungsrecht keine ausreichenden Direktiven liefert. Sie ist dem verfas­sung­s­än­dernden Gesetzgeber vorbehalten und aufgegeben.

Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG weist die Konkretisierung des im Hinblick auf die gesamt­wirt­schaftliche Normallage entscheidenden Begriffs der Investitionen (Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG) in erster Linie dem Verant­wor­tungs­bereich des Gesetzgebers, nicht dem des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zu. Diesen Regelungs­auftrag, dessen Erfüllung der Senat in seinem Urteil von 1989 angemahnt hatte, hat der Gesetzgeber mit § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO nur formell erfüllt. Die Bestimmung ist die schlichte Rezeption der wesentlichen Inhalte dessen, was zuvor in Verwal­tungs­vor­schriften bestimmt war. Gegen die Vereinbarkeit des dort geregelten, die Haushaltspraxis beherrschenden Inves­ti­ti­o­ns­be­griffs werden seit langem schwerwiegende Bedenken geltend gemacht. Die Frage, ob insoweit bereits nach geltendem Verfas­sungsrecht eine korrigierende Auslegung von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG in Betracht zu ziehen ist, kann der Senat aber mangels Entschei­dungs­er­heb­lichkeit offen lassen. Eine Verschärfung der bisher praktizierten Regelgrenze der Kreditaufnahme würde auch im vorliegenden Verfahren lediglich deren Überschreitung vergrößern.

Trotz der seit 1989 weiter in bemerkenswertem Umfang gewachsenen Verschuldung des Bundes bleibt auch hinsichtlich des Tatbestands einer Störung des gesamt­wirt­schaft­lichen Gleichgewichts (Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG) an den vom Senat entwickelten Grundsätzen zur Anerkennung der Einschätzungs- und Beurtei­lungs­spielräume des parla­men­ta­rischen Gesetzgebers festzuhalten.

2. Nach diesen Maßstäben war § 2 Abs. 1 des Bundes­haus­halts­ge­setzes 2004 n.F. mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG noch vereinbar. Im Mittelpunkt der in den Gesetz­ge­bungs­ver­fahren sowohl zum ursprünglichen Haushalt 2004 als auch zum Nachtrags­haushalt dargelegten Gründe für die Überschreitung der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen stehen neben den schwierigen allgemeinen volks­wirt­schaft­lichen Ausgangs­be­din­gungen die Verfehlung der Teilziele eines hohen Beschäf­ti­gungs­standes und eines angemessenen Wirtschafts­wachstums. Die Feststellung, "dass auch im Jahr 2004 kein Wachstum erreicht wird, das ausreicht, Beschäftigung aufzubauen", traf unbestritten zu. Nach dieser Feststellung in Verbindung mit den begründeten Prognosen zur hohen Zahl der Arbeitslosen war es vertretbar, eine ernste Störung des gesamt­wirt­schaft­lichen Gleichgewichts auch im Jahr 2004 zu erwarten. Die Begründungen zum Nachtrags­haushalt 2004 schließen unmittelbar an die Begründungen zum Haushaltsgesetz an und bestätigen diese. Trotz leichter Konjunk­tur­er­holung infolge dynamischer Auslands­nachfrage hätten sich die Inlands­nachfrage, die Inves­ti­ti­o­ns­tä­tigkeit und der Arbeitsmarkt sogar schlechter als erwartet entwickelt. In der gegenwärtigen Situation dürfe die öffentliche Hand nicht durch zusätzliche Sparmaßnahmen dazu beitragen, die Störung des gesamt­wirt­schaft­lichen Gleichgewichts noch zu verstärken. Die Erhöhung der Ermächtigung zur Kreditaufnahme war somit die notwendige Folge der Aufrecht­er­haltung des ursprünglichen nachfra­ge­po­li­tischen Konzepts trotz erheblicher Ausfälle der ursprünglich veranschlagten Einnahmen und teilt deshalb dessen Qualität als eine nachvoll­ziehbare und vertretbare Entscheidung des Haushalts­ge­setz­gebers.

Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff

Der Senat legt die einschlägige Vorschrift des Grundgesetzes zur Schul­den­be­grenzung des Bundes so aus, dass sie keine Wirkung zu entfalten vermag. Dies entspricht weder dem Wortlaut und dem Zweck der Norm noch der Systematik des Grundgesetzes. Dem Bundes­ge­setzgeber hätte von Verfassungs wegen aufgeben werden müssen, unter Einhaltung einer vom Senat gesetzten Frist den Inves­ti­ti­o­ns­begriff nach allgemeinen Vorgaben zu konkretisieren und ein Konzept zum Abbau des Schuldensockels und zur Vorsorge für absehbare Tragfä­hig­keits­lücken im Bundeshaushalt vorzulegen.

Das Grundgesetz geht vom herrschenden Leitbild eines auch materiell ausgeglichenen, das heißt von einem soliden Bundeshaushalt aus; Ausnahmen sind nur stufenweise und kontrolliert zugelassen. Die erste durch Art. 115 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz GG vorgesehene "Ausnahme" vom Grundsatz eines in seinen Ausgaben durch reguläre, nicht­kre­dit­fi­nan­zierte Einnahmen ausgeglichenen Haushalts folgt in seinem Regelungszweck der wirtschaft­lichen Einsicht, dass nicht jeder Kredit für eine solide und nachhaltige Haushalts­wirt­schaft schädlich ist. Die Kredit­fi­nan­zierung von entsprechenden Investitionen ist ein besonderer Fall der Einhaltung des Verfas­sungs­gebots, nur einen ausgeglichenen Haushalt zuverabschieden. Unter Investitionen sind dabei wertsteigernde Maßnahmen im Vermögen des Bundes zu verstehen (z.B. Erwerb von Grundstücken, Baumaßnahmen mit werterhaltender oder wertsteigernder Wirkung, Unter­neh­mens­be­tei­lungen, Kapitalanlagen), und demgemäß sind auch der Wertverzehr (Abschreibungen) und die Vermö­gens­ver­äu­ße­rungen im Haushalt entsprechend als negative Investitionen zu berücksichtigen.

Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG gilt nach dem Wortlaut sowie seinem Sinn und Zweck nur für eng begrenzte Ausnah­me­si­tua­tionen. Die strikte Formulierung "Ausnahmen sind nur zulässig" ist für das Grundgesetz nicht anders als sonst in der Sprache des Gesetzes ein unübersehbares Signal dafür, dass strenge Maßstäbe gelten sollen. Das Normensystem aus Art. 115 und Art. 109 GG verpflichtet den Haushalts­ge­setzgeber und das zur Kontrolle berufene Bundes­ver­fas­sungs­gericht, sich der gewollten zeitlichen (über die jeweilige Jährlichkeit hinausreichende) und sachlichen (unter Beachtung der konjunkturellen Entwicklung) Dehnung des Beurtei­lungs­zeitraums anzupassen. Weder Gesetzgeber noch Verfas­sungs­gericht dürfen den Maßstab der Jährlichkeit isoliert anlegen und die Augen verschließen vor der Entwicklung des Schuldenstandes und der Tragfä­hig­keits­lücken, die durch die Verschul­dens­politik entstehen oder vergrößert werden.

Die mündliche Verhandlung hat ergeben, dass es gemessen an den klassischen vier Parametern zur Erhaltung eines gesamt­wirt­schaft­lichen Gleichgewichts im Jahr 2004 keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Störung im Sinne des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG gegeben hat. Außerhalb von Störungslagen genießt der Grundsatz einer soliden ausgeglichenen Haushalts­wirt­schaft Vorrang, weil Bund und Länder den Erfordernissen des gesamt­wirt­schaft­lichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) außerhalb der besonderen Ermächtigung des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG von vornherein nur im Rahmen einer ausgeglichenen und nachhaltigen Haushalts­politik Rechnung tragen dürfen.

Insgesamt gefährdet eine Staats­ver­schuldung, die im Sockel bei guter Konjunktur nicht oder nicht nennenswert sinkt und bei schlechter konjunktureller Lage immer wieder deutlich steigt, schleichend die praktische Möglichkeit zur Beachtung wichtiger Staats­s­truk­tur­prin­zipien. Sie begünstigt eine Tendenz zur De-Konsti­ti­o­na­li­sierung, weil das politische Handeln des Bundes sich immer mehr fesselt und zur Überschreitung verfas­sungs­recht­licher Grenzen drängt. Es ist vor allem dieser Umstand, dieser die verfas­sungs­rechtliche Ordnung allmählich verformende Effekt, der das Verfas­sungs­gericht in eine besondere Verantwortung zwingt.

Sondervotum des Richters Landau

Richter Landau kritisiert, dass die Senatsmehrheit jedes Bemühen vermissen lasse, der exzessiven staatlichen Schuldenpolitik durch eine restriktivere Anwendung der haushalts­ver­fas­sungs­recht­lichen Normen Grenzen zu setzen. Es könne für die Zukunft nicht offen gelassen werden, wie der Begriff der Investitionen in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG zu verstehen ist. Außerdem müsse klargestellt werden, dass die derzeitige Regelung in § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO nicht als Erfüllung des verfas­sungs­recht­lichen Regelungs­auftrags zur Konkretisierung des Inves­ti­ti­o­ns­be­griffs angesehen und daher in Zukunft nicht der Bestimmung der Regelgrenze der Neuverschuldung zugrunde gelegt werden könne. Bei der Auslegung des Inves­ti­ti­o­ns­be­griffs müsse beachtet werden, dass die politische Gestal­tungs­freiheit künftiger Generationen durch die Schuldenlast immer weiter eingeschränkt werde. Daher könne eine zukunfts­be­güns­tigende Wirkung von Investitionen nur angenommen werden, wenn wirtschaftliche Substanz geschaffen werde, die real auf künftige Haushaltsjahre übertragen werden könne und diese damit von eigenen Aufwendungen entlaste. Demgemäß sei der verfas­sungs­rechtliche Tatbestand insbesondere auf die Netto­in­ves­ti­tionen zu beschränken, da ein über die laufende Periode hinaus­rei­chender positiver Wachstumseffekt allein von Netto­in­ves­ti­tionen bewirkt werden könne

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 77/06 des BVerfG vom 09.07.2007

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