21.11.2024
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Dokument-Nr. 19341

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Urteil10.06.2014Bundesverfassungsgericht2 BvE 4/13
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2014, 2563Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2014, Seite: 2563
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Bundesverfassungsgericht Urteil10.06.2014

Bundes­tags­wahl­kampf 2013: Bundespräsident Joachim Gauck durfte NPD-Anhänger als "Spinner" bezeichnenOrganklage der NPD gegen den Bundes­prä­si­denten zurückgewiesen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat einen Antrag der NPD gegen den Bundes­prä­si­denten wegen Äußerungen während der Zeit des Bundes­tags­wahl­kampfes 2013 zurückgewiesen. Wie der Bundespräsident seine Repräsentations- und Integrations­aufgaben mit Leben erfüllt, entscheidet der Amtsinhaber grundsätzlich selbst. Hierbei hat er die Verfassung und die Gesetze zu achten, darunter auch das Recht der politischen Parteien auf Chancen­gleichheit. Einzelne Äußerungen des Bundes­prä­si­denten können jedoch gerichtlich nur dann beanstandet werden, wenn er mit ihnen unter evidenter Vernach­läs­sigung seiner Integra­ti­o­ns­aufgabe und damit willkürlich Partei ergreift. Dies war vorliegend nicht der Fall.

Im August 2013 nahm der Antragsgegner an einer Gesprächsrunde vor mehreren hundert Berufsschülern im Alter zwischen 18 und 25 Jahren in einem Schulzentrum in Berlin-Kreuzberg teil. In der unter dem Motto „22.09.2013 - Deine Stimme zählt!“ stehenden Veranstaltung wies der Antragsgegner unter anderem auf die Bedeutung von freien Wahlen für die Demokratie hin und forderte die Schülerinnen und Schüler zu sozialem und politischem Engagement auf. Auf die Frage einer Schülerin ging der Antragsgegner auch auf Ereignisse ein, die mit den Protesten von Mitgliedern und Unterstützern der Antragstellerin gegen ein Asylbe­wer­berheim in Berlin-Hellersdorf in Zusammenhang standen. In der Presse­be­rich­t­er­stattung über die Veranstaltung wurden die Aussagen des Antragsgegners zitiert: „Wir brauchen Bürger, die auf die Straße gehen und den Spinnern ihre Grenzen aufweisen. Dazu sind Sie alle aufgefordert“ und „Ich bin stolz, Präsident eines Landes zu sein, in dem die Bürger ihre Demokratie verteidigen“.

Äußerungen des Bundes­prä­si­denten von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die von der Antragstellerin angegriffenen Äußerungen des Antragsgegners von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden sind und daher die Antragstellerin nicht in ihrem Recht auf Wahrung der Chancengleichheit der politischen Parteien verletzen.

Ausgestaltung der Repräsentations- und Integra­ti­o­ns­aufgaben bleibt Bundespräsident selbst überlassen

Der Bundespräsident repräsentiert Staat und Volk der Bundesrepublik Deutschland nach außen und innen und soll die Einheit des Staates verkörpern. Wie der Bundespräsident seine Repräsentations- und Integra­ti­o­ns­aufgaben mit Leben erfüllt, entscheidet der Amtsinhaber grundsätzlich selbst. Besteht eine wesentliche Aufgabe des Bundes­prä­si­denten darin, durch sein öffentliches Auftreten die Einheit des Gemeinwesens sichtbar zu machen und diese Einheit mittels der Autorität des Amtes zu fördern, muss ihm insoweit ein weiter Gestal­tungs­spielraum zukommen. Der Bundespräsident kann den mit dem Amt verbundenen Erwartungen nur gerecht werden, wenn er auf gesell­schaftliche Entwicklungen und allge­mein­po­li­tische Heraus­for­de­rungen entsprechend seiner Einschätzung eingehen kann und dabei in der Wahl der Themen ebenso frei ist wie in der Entscheidung über die jeweils angemessene Kommu­ni­ka­ti­o­nsform. Der Bundespräsident bedarf daher, auch soweit er auf Fehlent­wick­lungen hinweist oder vor Gefahren warnt und dabei die von ihm als Verursacher ausgemachten Kreise oder Personen benennt, über die seinem Amt immanente Befugnis zu öffentlicher Äußerung hinaus keiner gesetzlichen Ermächtigung.

Bundes­prä­si­denten muss Recht politischer Parteien auf Chancen­gleichheit achten

Das Handeln des Bundes­prä­si­denten findet seine Grenzen in der Bindung an die Verfassung und die Gesetze. Zu den vom Bundes­prä­si­denten zu achtenden Rechten gehört das Recht politischer Parteien auf Chancen­gleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG, soweit es um die Chancen­gleichheit bei Wahlen geht in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 GG oder Art. 28 Abs. 1 GG. Eine die Gleichheit ihrer Wettbe­wer­b­s­chancen beein­träch­tigende Wirkung kann für eine Partei auch von der Kundgabe negativer Werturteile über ihre Ziele und Betätigungen ausgehen.

Gestaltung der Amtsführung und Wahrnehmung seiner Integra­ti­o­ns­funktion bleibt ausschließlich Bundes­prä­si­denten überlassen

Die verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle von Äußerungen des Bundes­prä­si­denten, die die Chancen­gleichheit der Parteien berühren, hat zu berücksichtigen, dass es ausschließlich Sache des Bundes­prä­si­denten selbst ist, darüber zu befinden, wie er seine Amtsführung gestaltet und seine Integra­ti­o­ns­funktion wahrnimmt. Inwieweit er sich dabei am Leitbild eines „neutralen Bundes­prä­si­denten“ orientiert, unterliegt weder generell noch im Einzelfall gerichtlicher Überprüfung. Andererseits widerspräche es rechts­s­taat­lichen Grundsätzen, wären politische Parteien, deren Recht auf Chancen­gleichheit ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Grundordnung ist, im Verhältnis zum Bundes­prä­si­denten rechtsschutzlos gestellt. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, aber auch ausreichend, negative Äußerungen des Bundes­prä­si­denten über eine Partei gerichtlich daraufhin zu überprüfen, ob er mit ihnen unter evidenter Vernach­läs­sigung seiner Integra­ti­o­ns­funktion und damit willkürlich Partei ergriffen hat.

Nach diesem Maßstab sind die von der Antragstellerin angegriffenen Äußerungen des Antragsgegners nicht zu beanstanden.

Bundespräsident war zum Hinweisen auf Meinungs- und Versamm­lungs­freiheit und zum Aufruf zum politischen Meinungskampf befugt

Soweit die Antragstellerin sich in ihren Rechten dadurch verletzt sieht, dass der Antragsgegner Proteste gegen die Antragstellerin in Berlin-Hellersdorf öffentlich unterstützt habe, bleibt der Antrag ohne Erfolg. Dass der Bundespräsident gewaltsame Proteste gegen die Antragstellerin unterstützt oder auch nur gutgeheißen hätte, lässt sich seinen Äußerungen bei der gebotenen objektiven Auslegung nicht entnehmen. Der Bundespräsident hat eingangs seiner Antwort ausdrücklich darauf hingewiesen, bereits das Abreißen von Plakaten sei nicht zu billigen. Es konnte daher kein Zweifel bestehen, dass er erst recht gewalttätige Ausein­an­der­set­zungen mit der Antragstellerin ablehnte. Im Weiteren hat er lediglich in der Sache auf die Meinungs- und Versamm­lungs­freiheit hingewiesen und zum politischen Meinungskampf aufgefordert. Hierzu war er befugt.

Verwendung des Wortes "Spinner" im vorliegenden Fall zulässig

Verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Verwendung des Wortes „Spinner“ im konkreten Zusammenhang. Der Antragsgegner hat damit über die Antragstellerin und ihre Anhänger und Unterstützer ein negatives Werturteil abgegeben, das isoliert betrachtet durchaus als diffamierend empfunden werden und auf eine unsachliche Ausgrenzung der so Bezeichneten hindeuten kann. Hier indes dient, wie sich aus dem Duktus der Äußerungen des Antragsgegners ergibt, die Bezeichnung als „Spinner“ - neben derjenigen als „Ideologen“ und „Fanatiker“ - als Sammelbegriff für Menschen, die die Geschichte nicht verstanden haben und, unbeeindruckt von den verheerenden Folgen des Natio­nal­so­zi­a­lismus, rechtsradikale - natio­na­lis­tische und antide­mo­kra­tische - Überzeugungen vertreten. Die mit der Bezeichnung als „Spinner“ vorgenommene Zuspitzung sollte den Teilnehmern an der Veranstaltung nicht nur die Unbelehrbarkeit der so Angesprochenen verdeutlichen, sondern auch hervorheben, dass sie ihre Ideologie vergeblich durchzusetzen hofften, wenn die Bürger ihnen „ihre Grenzen aufweisen“. Indem der Antragsgegner, anknüpfend an die aus der Unrechts­herr­schaft des Natio­nal­so­zi­a­lismus zu ziehenden Lehren, zu bürger­schaft­lichem Engagement gegenüber politischen Ansichten, von denen seiner Auffassung nach Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen und die er von der Antragstellerin vertreten sieht, aufgerufen hat, hat er für die dem Grundgesetz entsprechende Form der Ausein­an­der­setzung mit solchen Ansichten geworben und damit die ihm von Verfassungs wegen gesetzten Grenzen negativer öffentlicher Äußerungen über politische Parteien nicht überschritten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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