Dokument-Nr. 908
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Bundesverfassungsgericht Urteil25.08.2005
BVerfG weist Klage der beiden Bundestagsabgeordneten gegen Parlamentsauflösung abDer Weg für Neuwahlen ist damit geebnet
Mit Urteil vom 25.08.2005 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe die Klage der beiden Bundestagsabgeordneten Schulz und Hoffmann, die sich gegen die Anordnung des Bundespräsidenten vom 21.07.2005 über die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages und über die Festsetzung der Wahl auf den 18.09.2005 gewandt hatten, als unbegründet zurückgewiesen.
Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten seien mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein dem Zweck des Art. 68 GG widersprechender Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lasse sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, sei keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen.
Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Zwar greife die Auflösung des Deutschen Bundestages in den Abgeordnetenstatus der Antragsteller ein. Dieser Eingriff sei jedoch durch das Grundgesetz erlaubt und daher gerechtfertigt. Die an das Parlament gerichtete Vertrauensfrage entspreche nicht nur den formellen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit, sondern auch dem Zweck des Art. 68 GG und sei somit inhaltlich rechtmäßig.
Ob ein Kanzler über ein verlässliche parlamentarische Mehrheit verfüge, könne von außen nur eingeschränkt beurteilt werden. Aus den parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen könne sich ergeben, dass der Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibe, wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den seine Politik tragenden Fraktionen entwickle. Es widerspreche dem Zweck des Art. 68 GG nicht, wenn ein Kanzler, dem Niederlagen erst bei künftigen Abstimmungen drohten, bereits eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stelle, denn die politische Handlungsfähigkeit gehe auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen sei, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen. Insoweit habe der Bundeskanzler eine Wertung vorgenommen, die durch das Bundesverfassungsgericht schon praktisch nicht eindeutig überprüft werden könne und auch nicht den üblichen prozessualen Erkenntnismitteln zugänglich sei.
Auch seien die Überprüfungsmöglichkeiten des Gericht schon deshalb zurückgenommen, weil bei der Beurteilung über die Vertrauensfrage schon vorher drei Verfassungsorgane, nämlich Kanzler, Parlament und Bundespräsident beteiligt gewesen seien. Das Grundgesetz vertraue insoweit dem System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den obersten Verfassungsorganen. Im Rahmen des dem Bundeskanzler eingeräumten Einschätzungsspielraumes könne das Gericht daher nur überprüfen, ob der Einschätzung des Kanzlers aufgrund von Tatsachen eine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen sei und sich die Einschätzung des Kanzlers somit als falsch darstelle. Dies sei jedoch nicht der Fall, da solche, die Einschätzung des Kanzlers eindeutig widerlegende Tatsachen von den Antragstellern nicht vorgetragen seien. Vielmehr habe der Bundeskanzler Tatsachen benannt, die für seine Einschötzung der politischen Kräfteverhältnisse sprächen.
In diesem Zusammenhang sei beispielsweise der Streit innerhalb der SPD über die "Agenda 2010" zu nennen, der zu erheblichen Verlusten bei sämtlichen Landtagswahlen und der Europawahl seit deren Beschluss geführt habe. Aus seiner eigenen Partei seien im Laufe der Wahlperiode und im Zuge der Auseinandersetzungen über die "Agenda 2010" Forderungen nach seinem Rücktritt als Parteivorsitzender verlautbart worden.
Darüber hinaus habe der Partei- und Fraktionsvorsitzende (Müntefering- d.Red.) diese Einschätzung des Bundeskanzlers nachweislich geteilt, indem er dem Kanzler vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen mitgeteilt habe, er habe Sorge um die Handlungsfähigkeit seiner Partei und Fraktion. Damit habe dieser in seiner Eigenschaft als 'Gewährleister' der stetigen parlamentarischen Unterstützung der Regierungspolitik und als engster Zusammenarbeiter des Kanzlers deutlich gemacht, dass durch die Fraktion des Bundestages eine Gewähr für die Unterstützung der Politik des Kanzlers nicht mehr übernommen werden könne.
Der Kanzler habe deshalb, auch ob der Kräfteverhältnisse im Bundesrat, seiner Einschätzung zu Grunde legen dürfen, dass eine Durchsetzung seiner politischen Linie gefährdet sei bzw. eine Fortführung der Leitlinien seiner Politik keine Mehrheiten mehr finden würde. Dieser Einschätzung des Bundeskanzlers sei jedoch keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen, daher sei der dem Kanzler eingeräumt Ermessensspielraum eingehalten worden.
Die Entscheidung ist im Ergebnis mit 7 : 1 Stimmen ergangen, im Hinblick auf den Maßstab der Entscheidung mit 5 : 3 Stimmen. Die Richterin Lübbe-Wolff, die die Entscheidung im Ergebnis mitträgt, sowie der Richter Jentsch, der sie nicht mitträgt, haben der Entscheidung jeweils eine abweichende Meinung angefügt.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 25.08.2005
Quelle: Pressemitteilung des BVerfG vom 25.08.2005, zusammengefasst von der ra-online Redaktion
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